Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Überkrass

H&M und Busfahren im Märkischen Viertel

Foto: Steffen Schuhmann

Nein, im Zentrum wolle er nicht wohnen, beantwortet der 17jährige Daniel brav meine Frage und meint damit das Märkische Viertel. Hier sei es ihm viel zu wuselig. Auch sein Kumpel Germain bleibt lieber in der ruhigen Gegend am Paracelsusbad. Sie sitzen gerade im Café der Indoor-Beach-Volleyball-Halle und schauen ihren Freunden beim Spielen zu. Fast täglich fahren sie mit dem Bus ins MV. Überhaupt treffen sich im Norden Berlins die Jugendlichen nicht an den Haltestellen, um zu saufen oder die Funktionen ihrer Mobiltelefone auszureizen, wie man es aus Kleinstädten und Dörfern kennt, sondern um tatsächlich auf den Bus zu warten.

Für die 14jährigen Mädchen der Street-Dance-Gruppe im SportJugend Club in der Königshorster Straße scheint es dagegen ein Statussymbol zu sein, direkt im Kiez zu wohnen und nicht täglich anreisen zu müssen. Stolz berichten sie, daß selbst Jugendliche aus Kreuzberg und Neukölln zum Tanzen, Billardspielen oder Kickern vorbeikommen, „hier ist ja schließlich auch viel mehr los“. Und die Betreuer seien auch „voll nett“. Sogar so nett, daß die Mädchen ihnen lieber aus dem Blickfeld gehen, wenn sie eine rauchen wollen – als ob es ihnen unhöflich vorkäme, die Geduld und Toleranz ihrer Aufpasser auszunutzen.

Lutz Zauber, einer der Betreuer im JugendSportClub, ist ebenfalls stolz auf das vielfältige Freizeitangebot. Man müßte unbedingt noch einmal vorbeikommen, wenn der Kletterfelsen geöffnet sei, die derzeitige Hauptattraktion. Er versteht seine Aufgabe hauptsächlich darin, den Jugendlichen sportliche Betätigungen anzubieten. Natürlich gebe es auch hin und wieder Probleme zu lösen – den Mädchen von der Street-Dance-Gruppe fallen allerdings gerade mal Streitereien zwischen Freundinnen ein –, doch in Berlin inflationär gebrauchte Begriffe wie sozialer Brennpunkt oder Verelendung gehören nicht zu seinem Vokabular. Nicht einmal als einkommensschwach will er einige seiner Klienten bezeichnet wissen: Die Jugendlichen haben heutzutage nun mal alle ein Mobiltelefon und legen auch sonst viel Wert auf Äußerlichkeiten. Dazu braucht es eben Geld, und wer keins hat, muß sich die Dinge anderweitig besorgen. In seiner nüchternen Beschreibung schwingt keinerlei moralische Bewertung mit.

Während sich die Street-Dance-Gruppe darüber streitet, wer am meisten Anrecht darauf hat, als echter MVler zu gelten, hängen Sandy und Charline in der Einkaufspassage rum. Davon läßt sich Charline auch nicht abbringen, seitdem sie von ihren Eltern ins öde Mahlow verschleppt wurde. Wer – wie die beiden – als liebste Freizeitbeschäftigungen H&M, Orsay, Rumlaufen und Busfahren angibt, scheint im Märkischen Viertel auch gut aufgehoben zu sein. Einzig bedauern sie, daß Hertie vor einigen Jahren dem „Märkischen Zentrum“ weichen mußte. Jetzt bleibt ihnen nur noch Woolworth, um Schmuck zu kaufen. Daß sie auch nach dem Auszug bei ihren Eltern im MV wohnen wollen, steht dennoch außer Frage. Nur manchmal verlassen sie ihren Kiez, um am Ku'damm und am Potsdamer Platz ihre Lieblingseinkaufsketten aufzusuchen oder um im Borsigcenter ins Kino zu gehen.

Die türkischen Jugendlichen im Billardsalon wagen sich auch schon mal in den Wedding oder nach Kreuzberg. Wohnen wollen sie dort aber auch nicht, lieber hier im Ruhigen. Sie freuen sich vielmehr darüber, daß immer mehr Türken aus dem Wedding hierherziehen, vermutlich, „weil es dort so abgeratzt ist“.

Ein Jugendbetreuer, der lieber nicht namentlich genannt werden will, kennt diese auffallende Identifikation mit dem Heimatkiez der MVler – schließlich ist er selbst hier aufgewachsen. Er sieht aber auch die Probleme dieses Lokalpatriotismus: Um nicht aus ihrem Freundeskreis ausgeschlossen zu werden, trauen sich einige kaum, sich weiter weg nach Lehrstellen oder Jobs umzusehen. Dabei trifft man auch in anderen Stadtteilen mitunter MVler, berichtet mir ein Fast-noch-Jugendlicher. Man würde sie sogar sofort erkennen – woran, weiß er auch nicht so genau, außer daß nur die „aus dem Märkischen“ „überkraß“ und „übergeil“ sagen. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, daß sie sich überall suchen, um nicht so allein zu sein in der Fremde.

Susann Sax

 
 
 
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