Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Unreines Experiment

Im Arsenal ist erstmals eine umfassende Michael-Snow-Retrospektive zu sehen

Sein wohl berühmtester Film besteht aus einer einzigen, 45 Minuten langen Kamerafahrt, einem Zoom auf ein Foto zu, das Meereswellen zeigt. Wavelength, der Film, der den Kanadier Michael Snow Ende der sechziger Jahre in der New Yorker Avantgarde-Szene bekannt machte, ist aber kein reines, glattes Formexperiment. Während des Zooms stürzt in dem Raum, in dem das Bild hängt, ein Mann tot zu Boden, ein Bücherregal wird hereingetragen, ein Radio angeschaltet. „Diese `Unreinheit', der Umstand, daß die Realität in ihm eben doch nicht ganz getilgt ist, gibt dem Film seine innere Spannung", schreibt Ulrich Gregor. Und Mi-chael Snow meint rückblickend hintersinnig, er habe einige Fehler gemacht bei dieser Low-Budget-Produktion, die Kamerafahrt sei aus mehreren Einstellungen zusammengestückelt und verlaufe außerdem nicht ganz gerade. Aber so sei das eben.

Wavelength ist Teil einer Reihe von Arbeiten, in denen sich Michael Snow mit Kamerabewegungen auseinandersetzt. So bewegt sich in Back and Forth (1969) eine Kamera horizontal in einem Klassenzimmer hin und her, in ihrer Bewegung abgekoppelt von den Ereignissen, die dort gezeigt werden könnten. Den Höhepunkt dieser Versuchsanordnungen bildet aber der dreistündige Film La Région Centrale (1971). Für diesen „Landschaftsfilm" hat Snow eigens eine Maschine bauen lassen, die es erlaubt, die Kamera in alle Richtungen und um verschiedenste Achsen kreisen zu lassen, und erreicht damit eine Emanzipation des Kamerablicks, der nicht mehr in dem Bestreben gefangen bleibt, menschenmögliche Perspektiven nachzustellen. Aufgestellt wurde die Maschine auf einem Berggipfel, in einer menschenleeren, felsigen Landschaft in Québec. Snow, der dem Film ursprünglich den Untertitel „A Rock and Grass Festival" geben wollte, bereitet das Publikum auf dieses atemberaubende visuelle Erlebnis so vor: „Bleiben Sie, schauen Sie aufs Bild, aber denken Sie an etwas anderes. Später werden Sie vielleicht herausfinden, daß Sie wieder zu den Bildern zurückgekehrt sind." La Région Centrale, und das ist wahrscheinlich das Entscheidende, ist kein „Experimentalfilm", bei dem man nach einer gewissen Zeit verstanden hat, was einem demonstriert werden soll. Man muß ihn wirklich gesehen haben.

Die Retrospektive im Arsenal schreitet das ganze Spektrum des Snowschen Oeuvres aus, von dem frühen Animationsfilm A to Z von 1956 bis hin zu jüngsten Arbeiten wie Triage, einer 16mm-Doppelprojektion, die in Berlin ihre Europapremiere erlebt, und der ironischen DVD-Produktion WVLNT ­ Wavelength For Those Who Don't Have the Time (2003). Snow antwortet damit denen, die ihn schon lange zur Veröffentlichung seines „Klassikers" auf Video oder DVD überreden wollen, indem er seinen Film in drei Teile verhackstückt und diese übereinanderlegt. Zu sehen ist aber auch das viereinhalbstündige „Epos" Rameau's Nephew by Diderot von 1974, „a true talking picture", wie Snow es charakterisiert, oder See You Later/Au révoir (1990), wo eine in Realzeit 30 Sekunden dauernde Handlung ­ Snow beim Verlassen eines Büros ­ auf 17,5 Minuten gedehnt und somit verfremdet wird.

Großes Aufsehen erregte 1982 auch der Film SO IS THIS, der nur aus einzelnen Worten ­ weiß vor schwarzem Hintergrund ­ besteht, die sich bei wechselndem Tempo zu Sinnzusammenhängen und Sätzen zusammenfügen. „This is the title of this film. The rest of this film will look just like this", beginnt der Film, die Karten sozusagen gleich auf den Tisch legend, um über 43 Minuten einen Diskurs über Film und/als Sprache zu entfalten, dabei immer wieder unerwartete Haken schlagend und den Zuschauer an der Nase herumführend.

La Région Centrale hat einen faszinierenden „soundtrack", der aus den Steuergeräuschen der die Kamera bewegenden Maschine entstanden ist. Der ist aber kein mehr oder weniger zufälliges Nebenprodukt, denn Michael Snow verfügt als Jazzmusiker über ein entsprechendes Sensorium und wird im Rahmen der Retrospektive auch auf dem Klavier improvisierend auftreten. Überhaupt sprengt diese Werkschau die Gattungsgrenzen. Im Kino Arsenal werden Videoinstallationen gezeigt, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, daß innovative Filme heute oft Unterschlupf in Ausstellungen und Museen finden und Snow speziell in der Kunstszene großes Interesse entgegengebracht wird. Was Film im 20. Jahrhundert zu leisten vermocht hat und noch immer leistet, läßt sich eindrucksvoll und beispielhaft anhand dieser Retrospektive nachvollziehen, getreu Michael Snows Motto: „Wenn es überhaupt Sinn hat, ein Kunstobjekt zu schaffen (was nicht immer der Fall ist), dann sollte man etwas produzieren, was die Welt um eine neue Erfahrung bereichert."

Florian Neuner

> „THIS is a universe – Retrospektive MICHAEL SNOW", von 3. bis 30. Juni im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten

 
 
 
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