Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Musik für die Massen:
Soul-Music

Bands aus Island haben es nicht leicht. Für ihre Musik werden wahlweise Landschaft, Mythen, geothermische Absonderlichkeiten oder ähnliches verantwortlich gemacht. So wird die Musik gerne stellvertretend für die Seelenbeschaffenheit der Isländer angeführt. Wenn dann eine Band – wie beispielsweise Múm – ihr Album auch noch in einem verlassenen isländischen Leuchtturm aufnimmt, läuft die Zuschreibungsmaschine besonders heiß. Schwebend trällender Gesang und Melodien zwischen Pathos und Melancholie lassen ein perfektes Psychogramm entstehen. Dabei quellen aus dem neuen Album Summer Make Good (FatCat) zunächst Geräusche wie aus einem alten Röhrenradio, die sich nur langsam zu sphärischen Melodien verquirlen. Ohnehin bricht die ganze hybride Signifikantenkette immer wieder im minimalistischen Klicken und Knarzen zusammen. Dafür öffnet sich dann eine andere Schublade, denn zwei der drei Musiker von Múm leben seit Jahren in Berlin – und Berlin steht nun mal für elektronische Miniaturen. Wenn man also unbedingt will, verraten die Songs mindestens so viel von den Geheimnissen elektronischer Gerätschaften und deren Innenleben, wie über die Befindlichkeiten isländischer Musiker. Kann aber auch sein, daß alles nur ein einziger Fake ist, und in Wahrheit kommt diese Band aus New York.

Ein Fake-Verdacht liegt auch bei RussenSoul (Trikont) in der Luft. RussenSoul gehört zu der raffinierten und sich scheinbar selbst schmierenden Vermarktungsmaschine Wladimir Kaminer: Startpunkt war eine kleine Veranstaltung im Kaffee Burger namens RussenDisko, dann ein Buch und eine CD mit gleichem Titel (oder war es umgekehrt?), eine Radiosendung auf Multikulti, zwischendurch Gastauftritte mit seinem DJ-Kollegen Yuriy Gurzhy auf der halben Welt, kombiniert mit Lesereisen und Kolumnen in allen wichtigen Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands ­ keine halben Sachen also.

Nachdem uns das Duo Kaminer und Gurzhy auf RussenDisko mit der russischen Tanz- und Trinkfreude bekannt gemacht hat, stellt es nun die russische Melancholie und einen weiteren Aspekt des Wodkatrinkens vor: RussenSoul ­ sentimental und traurig, so fühlt sie sich an, die andere Seite der russischen Seele. Aber dann ist die erste Nummer auf der CD eine klassische Raggaenummer. Es folgen Songs im Ska- und lateinamerikanischen Gewand, die wenn auch nicht zu Pogo, so aber zum ausgelassenen Tanzen auffordern. RussenSoul also nur eine RussenDisko II? Irgendwie schon, auch wenn hier das eine oder andere Akkordeon oder Volksweisen zu melancholischen Engtanz-Nummern einladen. Der geneigte Rußlandkenner beginnt zu ahnen, daß die RussenSeele doch vielschichtiger und ganz allgemein fröhlicher zu sein scheint als gemeinhin angenommen. So oder so kommt man nicht umhin, Kaminer und Gurzhy für diese Nachhilfestunde in Sachen Tiefenpsychologie der Völker zu danken ­ Nastrovje.

Marcus Peter

 
 
 
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