Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1904

27. Mai bis 30. Juni

Die Einführung einer Pflicht- Fortbildungsschule für Taubstumme wird von dem Berliner Taubstummenlehrer-Verein angestrebt, der in seiner letzten Sitzung beschließt, bei den städtischen Behörden dahin vorstellig zu werden. Sie begründen es folgendermaßen: Das Leben und der Beruf stellen an die Taubstummen ganz dieselben Anforderungen wie an alle anderen Menschen, darum bedürfen sie auch der gleichen Bildung. Die bereits bestehende fakultative städtische Fortbildungsschule für Taubstumme, Markusstr. 49, leidet seit ihrer Begründung 1879 daran, daß der Besuch nicht regelmäßig und pünktlich genug ist, weil die Zöglinge, welche über die ganze Stadt zerstreut wohnen, nicht immer so rechtzeitig von den Lehrmeistern und anderen Arbeitgebern aus ihren Arbeitsstätten entlassen werden, wie es zum ordentlichen Besuch der Fortbildungsschule erforderlich ist. Nach einer Kabinettsorder von 1817 steht demjenigen Meister oder Künstler, welcher einen Taubstummen in seinem Beruf so ausgebildet hat, daß er darin selbständig erwerbsfähig ist, eine Staatsprämie von 150 Mark zu. Der Verein will die Verleihung dieser Prämie vom Besuch der Fortbildungsschule seitens des taubstummen Lehrlings mit abhängig gemacht sehen.

Die für Erziehung und Unterricht der Taubstummen bestimmten Taubstum-menanstalten verdanken ihren Ursprung dem seit Mitte des 18. Jahrhunderts hervortretenden philanthropischen Sinn. Im Altertum bei Aristoteles wie im christlichen Mittelalter bei Augustinus und im römischen Recht hielt man die Taubstummen für bildungsunfähig. Öfters trug man sogar religiöse Bedenken, Geschöpfen höhere Kultur aufzudrängen, denen Gott die Anlage dafür versagt hätte. Doch wurden im Altertum wie im Mittelalter einzelne Fälle bekannt, in denen die geistige Ausbildung Taubstummer gelungen war. So werden im alten Rom zwei stumme Maler genannt; um 700 n. Chr. hat nach Beda dem Ehrwürdigen Bischof Johannes von Hagunstald (Hexham) einen Taubstummen zum Absehen und zum Sprechen gebracht. Der Humanist Rudolf Agricola (gest. 1485) berichtet als Augenzeuge, daß ein Taubstummer zum ungehinderten schriftlichen Verkehr mit seiner Umgebung herangebildet war. Der berühmteste der älteren Taubstummenlehrer ist der spanische Mönch Pedro de Ponce zu Sahagun in Leon (gest. 1584), der vier Taubstummen die Lautsprache beibrachte.

In Deutschland unterrichtete gleichzeitig der Propst Joachim Pascha in Wusterhausen a. d. Dosse (gest. 1578) mit Erfolg seine taubstumme Tochter. Seitdem 1778 der Kurfürst Friedrich August von Sachsen Sam. Heinickes in Eppendorf bei Hamburg zur Einrichtung einer öffentlichen Taubstummenanstalt nach Leipzig berief, ist die Pflicht des Staates und der Gesellschaft, für Erziehung und Unterricht der Taubstummen in besonderen Anstalten Sorge zu tragen, mehr und mehr zum allgemeinen Bewußtsein gekommen. Dem wirklichen Bedürfnis ist aber bis heute selbst unter den gebildeten Völkern Europas noch nicht durchweg Genüge geleistet.

Der wohlgemeinte, von J. B. Graser angeregte Versuch, jeden Volksschullehrer für den Unterricht taubstummer Kinder vorzubilden, zu dem Ende die Lehrerseminare mit Taubstummenanstalten zu verbinden und im übrigen die Kinder der Volksschule ganz zu überlassen (seit 1830), hat sich nicht bewährt und ist überall wieder aufgegeben. Ebenso ist man von der Vereinigung der Taubstummen- und Blindenanstalten, die nur noch an wenigen Orten fortbesteht, durch die Erfahrung zurückgekommen.

Falko Hennig

> Taubstummheit (Aphonia surdorum, Surdomutitas) ist durch Taubheit bedingte Stummheit und entweder angeboren oder während der Kindheit vor der Zeit entstanden, in der die Sprache erworben und hinreichend befestigt ist, nämlich vor dem 6. oder 7. Jahr.

 
 
 
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