Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kalkutta, São Paulo, Berlin

Berlin: Elendsviertel oder Versuchsmodell

Es erzeugt ein überaus merkwürdiges Gefühl, Begriffe, die man sonst aus Reportagen über indische Städte oder brasilianische Favelas kennt, plötzlich im Zusammenhang mit Kreuzberg oder Friedrichshain zu hören. Da liest man plötzlich von Armutsvierteln in Berlin. Wenn die unbegreiflichen Zonen der exotischen Armut für deutsche Leser ausgeleuchtet werden, jagt es einem einen leichten Schauer über den Rücken. Ein Schauer, der irgendwie auch angenehm ist, denn indische Armutsviertel bleiben immer Fiktion, und die Elendsgeschichten sind aus vertrautem Reportagegarn gesponnen.

Elendsviertel in Berlin gibt es seit dem Erscheinen des neuen Sozialstrukturatlas. Wie jedesmal, wenn die Berliner Sozialdaten vorliegen, entzündete sich über Nacht eine hitzige Debatte. Sie handelt davon, wie die Verslumung der ärmsten Viertel aufgehalten werden könnte. Die SPD-Regierung habe versagt, das Quartiersmanagement habe versagt. Der Hamburger Spiegel sah eine Armutsarmee ­ und Armutsviertel so groß wie Dortmund oder Hannover. „Armutsarmee" und „Armutsviertel" schienen so virulente Reizwörter zu sein, daß zahllose Presseartikel sie begeistert zitierten.

Immer wenn etwas statistisch erfaßt ist, gilt es mit einem Schlag als faktisch, wahr und bewiesen. Auch wenn zuvor schon jeder wußte, daß die Wirtschaft am Boden und der Haushalt seit dem Bankenskandal bis auf den letzten roten Cent geplündert ist. Wenn es faktisch nichts mehr gibt, was eine Stadt am Leben erhält, was soll ein Sozialatlas anderes offenbaren, als daß sichtbar viele Menschen keinen Job mehr haben? Und wo sollen sie leben, wenn nicht in Berlin? Dennoch: Daß es nun ­ offiziell erfaßt ­ ein ganzes Fünftel der Bevölkerung sein soll, das offiziell mit weniger als 600 Euro auskommt, löste einen Schock aus. Armut, ein Begriff, der nach Oliver Twist, nach Märchen, nach 19. Jahrhundert klingt, ein Wort, das man immer auf andere und nie auf sich selber bezieht, ist keine Marginalie mehr. Sie scheint mittlerweile unbemerkt zum Alltagsphänomen geworden zu sein.

Nach Veröffentlichung dieser Daten wollten die Journalisten die Schreckensbotschaft verbreiten. In eine völlige Schieflage geriet der Drang zur Aufklärung, weil fast niemand nach den Ursachen, nach der Art oder Bedeutung dieser Armut fragte. Niemand schrieb darüber, was es für das Selbstverständnis einer Gesellschaft heißt, wenn ein Ausgeschlossensein von Dingen, die noch immer als konstituierend gelten ­ der offizielle Arbeitsmarkt und die damit verbundenen Regelwerke, der Konsum und bestimmte Teile der Gesundheitsversorgung ­ mittlerweile keine Ausnahme mehr sind, sondern ein Normalfall. Die Diskussion um Armut in der Hauptstadt jedoch kreiste fast ausschließlich um die Lage von Stadtvierteln. Ein gesellschaftliches und ökonomisches Problem wurde zu einer territorialen Frage. Es ging darum, ob es gerechtfertigt sei, daß Prenzlauer Berg oder Marzahn nun genau diesen und nicht jenen Platz im örtlichen Ranking einnehmen. Oder daß in Kreuzberg Frauen im Durchschnitt früher sterben müssen als im benachbarten Treptow. Es ging um abstürzende und kippende Kieze und darum, ob ein Quartiersmanagement diese Orte retten könnte. Niemand bestreitet, daß es in einem Stadtteil von entscheidender Bedeutung sein kann, ob aus dem Fonds des Quartiersmanagements die örtliche Schule instandgesetzt werden kann. Vor dem Hintergrund jedoch, daß die gesamten alten Bundesländer und zunehmend auch Landstriche der ehemaligen BRD ebenso von diesem Schwund der Grundlagen dessen betroffen sind, was wir bisher unter einer funktionierenden Gesellschaft verstehen, wirkt die Debatte um Berliner Quartiersmanagements geradezu absurd. Etwa so, als würden die Bewohner eines Hauses, vor dem gerade die Abrißbirne schwingt, eben noch einen heftigen Streit darüber austragen, auf welche Weise man am besten welches Zimmer renoviert.

Wollte man über den Fall Berlin eine gewinnbringende Diskussion führen, müßte man zunächst damit aufhören, über Arme oder Arbeitslose wie über Außerirdische zu sprechen. Der Berliner Arbeitslose von heute könnte bald schon der Normalbürger von morgen sein. Statt Kreuzberg zum Slum zu verkitschen oder Neukölln zum Ghetto – und diese Orte damit in die fiktive Welt der Fernsehreportagen zu verlegen – sollte Berlin als ein Modell begriffen werden. Anders als Hoyerswerda ist Berlin noch nicht allein vom Schwund gezeichnet. Sie ist eine Stadt ohne funktionsfähige Wirtschaft, und sie ist pleite. Andererseits ist sie ein Anziehungspunkt, unter anderem für Studenten und Experimentierfreudige. Viele meinen, hier etwas ausprobieren zu können, investieren dafür Lebensenergie und nehmen unklare Perspektiven in Kauf. Auch für zumindest manche Gruppen von Migranten ist die Stadt noch immer ein Magnet. In Berlin werden Überlebensstrategien erprobt. Dabei liegt die nachstudentische Ich-AG nicht immer allzu weit entfernt vom libanesischen Flohmarkthandel. Es gibt Netzwerke von Migrantencommunities, Vetternwirtschaft und privaten Geldverleih, sozialamtsgestütztes Survival, kombiniert mit Schwarzarbeit, und zahllose Nischenexistenzen. Nicht allein der
Ruin der Stadt ist bemerkenswert, sondern auch ihre Vitalität. Dreieinhalb Millionen Menschen haben kaum mehr Existenzgrundlagen und überleben dennoch irgendwie.

Statt diejenigen, die mit geringen Ressourcen auskommen, immer wieder zu stigmatisieren, sollte man sich an den Gedanken gewöhnen, daß sie bald schon diejenigen sein können, von denen man lernen muß. Offen bliebe, ob die Lektion nun in neuen Formen sozialer Sicherungssysteme besteht, in der von Hand-zu-Hand-Ökonomie des privaten Business, oder ob sie darin besteht, daß die entstehende Survivalgesellschaft ein Schritt in die Barbarei ist.

Mit all dem soll nicht gesagt sein, daß man die Berliner nun ihrem Schicksal überlassen, die Zähne der Kinder faulen und die mittellosen Alten siechen lassen soll. Damit man am Ende sieht, wie es der Laborratte ergangen ist. Es geht darum, diejenigen, die aus den üblichen Kreisläufen ausgeschlossen sind, in die Diskussion zu holen. Denn hört man den Spiegel über die Berliner Armutsarmee reden, drängt sich der Gedanke auf, daß der Schrecken über die neue Armut längst zu einem Erschrecken vor den Armen selbst geworden ist. Wenn gesagt wird, daß ein Kiez „kippt", was heißt es anderes, als daß dieser Ort in den Augen des Autors aus der Welt herausfällt? Wenn Kreuzberg samt Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und „Armen" durch Begriffe wie „Bronx" in die Sphäre von Magazinstories verbannt wird, zeigt sich, wie stark das Bedürfnis ist, sich von dieser Wirklichkeit abzugrenzen. Vielleicht weil der eigene Job längst auch nicht mehr sicher ist. Kreuzberg-Fiction. Der Reporter raunt, und wir meinen zu wissen, daß Indien weit weg ist.

Tina Veihelmann

 
 
 
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