Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
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Arme Mitte

Der Sozialstrukturatlas Berlin 2003 vergibt Schulnoten

Es war zu erwarten angesichts der neoliberalen Kürzungspolitik bei anhaltender Umsatz- und Beschäftigungskrise. Und nun haben wir es auch schriftlich vorliegen im neu erschienenen Sozialstrukturatlas Berlin 2003 der zuständigen Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz: Die Armut wächst, vor allem in den zentralen Bezirken Kreuzberg, Wedding, Tiergarten und Neukölln, aber auch teilweise in Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Sie wird weiterhin verstärkt durch selektive Wanderung, und die soziale Schere zwischen Ausgegrenzten und Integrierten nimmt stadtweit zu.

Gestiegen ist nämlich nicht nur die Armutsquote der Bewohner, die mit weniger als 606 Euro auskommen müssen von 14,1 Prozent im Jahre 1996 auf 15,6 Prozent. Das sind immerhin 533000 Bürger, vor allem in Kreuzberg (28,1 Prozent der dort Lebenden), Wedding (27 Prozent) und Neukölln (23,7 Prozent). Auch die Quote der mehr als 2426 Euro Einnehmenden stieg im gleichen Zeitraum berlinweit von 4,8 auf 5,1 Prozent.

Aus den Daten der amtlichen Statistik vor allem aus dem Jahr 2002 errechneten die Autoren einen Sozialindex für die alten sowie für die fusionierten Neu-Bezirke, aber auch für kleinräumigere statistische Gebiete und Verkehrszellen.

Nach wie vor den Spitzenplatz beim aus 25 Variablen gebildeten Sozialindex nimmt Zehlendorf bei den Alt-Bezirken ein, mit einem Indexwert von 1,80491, gefolgt von Köpenick und Steglitz. Die Schlußlichter bilden Tiergarten, Wedding und Kreuzberg (-2,31204). Gegenüber dem recht anschaulichen Bericht Armut und soziale Ungleichheit in Berlin von 2002 aus der gleichen Senatsverwaltung sind die mehrdimensional konstruierten Indikatoren so abstrakt, daß sie dem Charakter von Schulnoten ähneln. Man weiß bei der normierten Skala des Sozialindexes zwischen -3 und + 3 wie bei einer Hitparade, wer gut und wer schlechter abschneidet. Aber was bedeutet es konkret, im -0,72615-Milieu Friedrichshains zu wohnen, der unter den Alt-Bezirken den 19. Platz einnimmt?

Zudem wird nicht nur die Absenkung der Transferleistungen im Gefolge des beschlossenen Arbeitslosengeldes II den Index nachvollziehbar verändern, sondern auch der Beitritt der zehn neuen EU-Länder. Denn der senkt bereits ab Mai die Quote der Bürger aus Nicht-EU-Staaten, ohne daß sich an deren Lebenslage irgendetwas verändert hätte. Bereits die wünschbare Verbesserung der Verhältnisse in einigen Bezirken führt methodisch dazu, daß Bezirke mit unveränderter Situation relativ zurückfallen.

Eine detailliertere Analyse ermöglicht die Untersuchung der 298 Verkehrszellen, in die Berlin für die Verkehrsplanung eingeteilt wurde. Für die Untersuchung dieser Zellen wurden dem Sozialindex allerdings nur vier Variablen zugrundegelegt. Es sind diese der Anteil jüngerer Personen zwischen 18 und 35 Jahren, der Anteil der Ausländer aus Nicht-EU-Staaten als demographische Kenngrößen und die soziale Probleme signalisierenden Quoten von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern.

Bei dieser Schichtung ergeben sich als die fünf Top-Wohnlagen Berlins: Alt-Gatow (Spandau), der Zeltinger Platz (Reinickendorf), die Treptower Siedlung Späthfelde, Alt-Heiligensee und Konradshöhe (ebenfalls Reinickendorf). Die negativsten Werte erhalten die Gegend um den Humboldthain (Wedding), das Gebiet um das Rathaus Neukölln, den Moritz- und Mariannenplatz (Kreuzberg) und zuletzt die Marzahner Straße in Hohenschönhausen. Gerade deren Einstufung als Berliner Schlußlicht kann jedoch als Stigmatisierung interpretiert werden, resultiert sie doch lediglich aus dem hohen Anteil jüngerer Zuwanderer (71,82 Prozent Nicht-EU-Bürger, von denen 42,8 Prozent zwischen 18 und 35 Jahre alt sind, gegenüber dem Berliner Durchschnitt von 11,20 und 23,73).

Nun ist auch Senatorin Heidi Knake-Werner klar, daß der gleiche Grad an relativer Armut respektive ein identischer Sozialindex keine Gleichheit der Lebenslage bedeutet, wie sie bei der Vorstellung der Ergebnisse einräumte. Die subjektive Wahrnehmung und psychosoziale Verarbeitung hängt neben den objektiven Belastungsfaktoren von der Bildung, Wertestruktur und sozialen Einbindung Betroffener ab, wobei sie auf das Prenzlauer Berger „Wohlfühlmilieu" junger Familien und Studenten trotz relativer Armut hinwies.

Vertiefende Untersuchungen mit den Techniken qualitativer Sozialforschung, von narrativen Interviews bis zu teilnehmender Beobachtung, wären eine lohnende Forschungsaufgabe für Stadtsoziologen und andere Sozialwissenschaftler, die damit nicht nur die eigene Karriere, sondern auch wichtige Einsichten befördern könnten. Denn die staatliche Verwaltung wird dafür keine Mittel aufbringen und wäre wohl auch nicht die Institution, der bei Befragungen von an den Rand der Gesellschaft Gedrückten das nötige Vertrauen entgegengebracht wird.

Die Sozialverwaltung will die aufgezeigten Ergebnisse sozialpolitisch nutzen, um gezielter in Problemkiezen intervenieren zu können, zum Beispiel in Form der Kinder- und Jugendgesundheitspflege. Hat sich doch gezeigt, daß Zehlendorfer Eltern sich ausreichend um die Gesundheit ihrer Kinder kümmern, während gerade der Weddinger Nachwuchs bereits mit faulen Zähnen und Übergewicht eingeschult wird. Brisanter ist jedoch, daß sich in belasteten Gebieten durch Sucht und fehlende Vorbeugung auch vorzeitige Sterbefälle häufen, die zu einem Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung von immerhin fünf Jahren führen. Gefordert ist zudem der Bildungssenator angesichts der enormen Bedeutung fehlender Hauptschulabschlüsse und Berufsausbildungen.

Da sich auch in den nächsten Jahren die Landesmittel nicht erhöhen werden, sollen in einem finanziellen „Wertausgleich" zwischen den Bezirken verstärkt Projekte in sozialen Brennpunkten auf Kosten stabilerer Bezirke gestützt werden. Immerhin eine angedachte Maßnahme der sozialen Umverteilung, die die betroffenen Bezirksvertretungen aber kaum mit solidarischer Einsicht hinnehmen werden.

Das zentrale Problem der Nicht-Integration in den Arbeitsmarkt, das überhaupt erst zur längeren Abhängigkeit von Transfereinkommen führt, ist jedoch weder von den Berliner Bezirken noch dem Senat zu lösen, der mit dem aktualisierten Datenwerk zumindest einen empirischen Blick auf das Problemknäuel erlaubt.

Franz-Josef Paulus

Der „Sozialstrukturatlas Berlin 2003" steht als Kurzfassung wie als komplette Studie zum Download unter www.berlin.de/sengessozv/statistik/index.html zur Verfügung. Er kann auch als gedruckte Fassung für 15 Euro plus Versandkosten bestellt werden: per E-Mail an Tanja.Meinhart@Sengsv.verwalt-berlin.de, per Fax 9028-2056 oder schriftlich bei der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz – ZS – E 13 – Frau Meinhart, Oranienstraße 106, 10969 Berlin

 
 
 
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