Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Das wahre Zentrum liegt ganz oben

Jahrelang wurde Mitte als das neue Zentrum Berlins gefeiert. Doch weit gefehlt: Das wahre Zentrum der Haupstadt liegt weiter nördlich. Davon jedenfalls sind die Anlieger des „MV" überzeugt, und die müssen es ja wissen. Nicht nur ganz Reinickendorf frequentiert regelmäßig das Märkische Viertel. Den Nordberlinern geht die Leidenschaft für marode Altbaufassaden, zwecklose Großbauten, technobespielte Lagerhallen, Multikultischick – und was sonst noch alles als hauptstadttypisch gilt – ohnehin gänzlich ab. Sie finden im MV alles, was sie brauchen.

Im MV kokettiert man nicht mit Armut, Improvisationskunst und permanentem Wandel, sondern setzt auf harmonisches Funktionieren. Die Skyline der mehr oder weniger frisch sanierten Hochhäuser mutet insbesondere in der Dämmerung wie ein Alpenpanorama an. Die labyrinthische Einkaufspassage mit dem wenig überraschenden Namen „Märkisches Zentrum" bleibt auch ohne aufdringlichen Wachschutz peinlich sauber. Zwischen den Häuserblocks, Fußball-, Tennis- und Kinderspielplätzen zwitschern Vögel, plätschern Brunnen und sprießt es dermaßen, daß man endlich einsieht: Berlin ist tatsächlich die deutsche Stadt mit den meisten Grünflächen. Nur die größte Kneipendichte des Landes ­ ein Etikett, um das sich wohl alle Orte beharrlich streiten ­ kann das MV schwerlich für sich beanspruchen. Ortsunkundige brauchen ziemlich lange, bis sie die Trinkhallen ausfindig gemacht haben.

Doch verbindet man mit nachmittäglichem Saufen ohnehin eher Arbeitslosigkeit, Perspektivenverlust und häuslichen Unfrieden; der MVler vergnügt sich lieber in der Einkaufspassage. Dort schlendern die Massen wie durch einen Vergnügungspark und stören sich nicht daran, daß das Märkische Viertel im nicht gerade ermutigenden Sozialstrukturatlas auch nur einen Platz im Mittelfeld ergattern konnte. Dennoch locken hier weder Totalausverkäufe, verdächtige Sonderangebote noch gar provisionsfreie Mietangebote. Und drumherum bieten sich mehr Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche als in den ganzen sogenannten Szenebezirken zusammen. Es müßten schon hartgesottene Quartiersmanager sein, die hier Handlungsbedarf sehen.

Daß der neue Rap-Star Sido in einem zitty-Interview das MV als Ghetto bezeichnet, ist wohl schlicht den zweifelhaften Codes der HipHop-Szene geschuldet. Wegziehen will er jedenfalls nicht, genausowenig wie die im MV aufgewachsenen Jugendlichen. Im Gegenteil: Seit Sido mit einem Lied über sein Viertel in den Charts ist, ist die Jugend überzeugt: Das MV ist das bekannteste Stadtviertel Deutschlands. Macht man sich wieder auf den Weg durch den Wedding nach Mitte, bleibt das leise Gefühl, den wahren In-Bezirk Berlins jahrelang verpaßt zu haben.

Susann Sax

> Mehr über Jugendliche und ihre Zentren jenseits des S-Bahnrings im Special

 
 
 
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