Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Selbstmitleid und aggressiver Trotz

Dave Thompson über Helden und Legenden des Gothic-Rock

Ich habe mich immer gefragt, was Bands wie Nine Inch Nails mit Musikströmungen wie Gothic Wave oder Industrial, denen sie sich selbst mehr oder weniger zuordnen, zu tun haben. Nach Jahren, in denen ich von der reinen unmittelbaren Abneigung schließlich zur völligen Ignoranz von Bands wie Nine Inch Nails, Marylin Manson und ihrer Ästhetik übergegangen bin, verrät mir Dave Thompson in seinem jüngst im Hannibal Verlag erschienenen Buch Schattenwelt die Hintergründe dieser meiner spontanen Reaktion.

Trent Reznor, Frontmann und Sänger der Nine Inch Nails, war mit seinem Debütalbum Pretty Hate Machine von 1989 in eine gut zu vermarktende Lücke amerikanischer „Abklatsch"-Reflexe auf diese Gattung britischer Musik-Kultur gerutscht. Eine Lücke, „die sich zwischen der reinen Wut von Ministry und der aufstrebenden Kultur des Alternative Rock auftat." Nach Ansicht des Autors gehen bei der amerikanischen Adaption aber wesentliche Elemente gegenüber den britischen Originalen verloren, ohne welche letztere aber kaum die sie kennzeichnende Durchschlagkraft bekommen hätten: Ironie, Spaß und Übermut.

Ähnlich wie Bob Dylan die verzerrte „(Zwillings)-Antwort Amerikas auf die Beatles" gewesen sei, habe sich aus dem ursprünglichen Britain Gothic Wave eine amerikanische Variante entwickelt, die aus der dortigen Death-Metal-Szene hervorging. Nine Inch Nails werden dabei als ein – freilich noch recht kreatives – Produkt des „überseeischen" Reflexes auf ein speziell britisches Musik-Phänomen dargestellt.

„Wir Briten gaben ihnen vier witzige Pilzköpfe, sie gaben uns Bob Dylan, wir gaben ihnen Glam, sie gaben uns Kiss, wir gaben ihnen Punk, sie gaben uns Black Flag", schreibt Thompson, und vielleicht gaben sie den Briten für Joy Division oder Sisters of Mercy die Nine Inch Nails? Als etwas ausgefallenere amerikanische Death-Metal-Reaktion auf deren eigentümliche Schwärze, in der Selbstmitleid und plötzliche aggressive Trotzreaktionen zu den markantesten Ausdrucksmerkmalen gehörten?

Wie sich solche und andere Merkmale zu einem ganzen Musikstil organisierten und im Gothic Wave der achtziger Jahre schließlich ein inzwischen legendäres Genre prägten, kann man in Schattenwelt auf etwa 400 Seiten nachlesen. Teilweise fließend ineinander übergehende Kapitel über die einzelnen damals wichtigen und häufig auch persönlich miteinander verbundenen Künstler ermöglichen detaillierte Einblicke in die Gothic Wave-Szene der ersten Stunde. Sie behandeln auch die sich in einigen Comebacks und Reunions manifestierende weitere Entwicklung der Macher von damals. Wer erinnert sich schon noch daran, daß ohne des Throbbing Gristle-Sängers G.P.Orridge Insistieren Unknown Pleasures, ein Album von Joy Division, zumindest zum damaligen Zeitpunkt niemals veröffentlicht worden wäre? Und wer weiß schon, daß Bauhaus-Sänger Peter Murphy in Manchester der schweren Körperverletzung angeklagt wurde, weil er bei einem Konzert jemanden aus dem Publikum tätlich angegriffen hatte, der ihm beim Singen in den offenen Mund gespuckt hatte?

Allerdings vermißt man in Schattenwelt eine Band, die zwar im strengen Sinne nicht eigentlich dem Gothic Wave zuzurechnen ist, aber nicht nur „durch und durch schwarz", sondern vor allem auch darkwavender, weil elektronischer ist als die in Thompsons Buch reichlich Erwähnung findende Siouxsie-Freundin Nico (Ex-Velvet Underground): Die Band Suicide, die sich 2003 mit dem nicht sonderlich gelungenen Album American Supreme wieder auf der Ton-und Bildfläche zurückmeldete. Suicide wurden Ende der siebziger Jahre mit düster erotisierenden Minimal-Electro-Beats bekannt und dürften in einem Buch über wavige Schattenwelten der achtziger Jahre nicht fehlen.

Vielleicht beabsichtigte Dave Thomp- son aber gar nicht a priori die Merkmale eines Musik-Stils akribisch herauszufiltern und von anderen Genres abzugrenzen. Ihm ging es wohl eher um die lebendige Vermittlung der Ereignisse und Beziehungen einer weit verzweigten und personell verflochtenen Musikszene. Und Suicide, wie auch andere weniger populäre Bands, kannte er möglicherweise nicht oder konnte sie trotz aller musikalischen Affinitäten letztlich in dieser Szene nicht recht verorten.

Ein ausführlicher chronologischer Anhang über historische Begebenheiten in der Gothic-Szene komplettiert die dokumentarische Mammut-Publikation, die wohl zur Kultlektüre nicht nur für Nostalgiker, sondern auch für „Ursprungs-Archäologen" des Gothic Wave-Rock avancieren wird. Ob sie auch von der ausgesprochen spezialisierten und orthodoxen deutschen Dark Wave- und Gothic-Szene angenommen wird, bleibt allerdings fraglich. Wenn auch die Herausgeber wohlfeil auf diese Szene schielten, als sie aus dem Originaltitel The Dark Reign Of Gothic Rock ein szene-kompatibles Schattenwelt machten.

Wolfram Hasch

> Dave Thompson: Schattenwelt. Hannibal-Verlag, Wien 2004. 19,90 Euro

 
 
 
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