Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Spiel und Reduktion

urban visions: europäische Kurzfilme aus den Städten

MIm Film, und eben auch im Kurzfilm, gibt es Kameraeinstellungen und Kameraeinstellungen. Es gibt die Formspielerei, als Fetisch nahezu, und die Reduktion. Im Kurzfilm möchte man meinen, will doch jeder etwas auf den Punkt bringen. Doch manche brauchen viele Punkte, andere nur einen. Und eben die Wahl der filmischen Einstellungen kann dies manchmal ganz konkret machen. Solche Kurzfilme dann im Vergleich zu sehen bzw. im gemeinsamen Ablauf, der somit gedoppelt wieder von der Form zum Inhalt, urbane Situationen im weitesten Sinne, überwechselt, das gibt es hier: Elf aktuelle Kurzfilme hat das junge Label lowave auf einer DVD unter dem Thema urban visions vereint und präsentiert damit gesampelte Stadtein- und ansichten junger europäischer Regisseure.

Gorka Aguado montiert im Eingangsfilm Push tausende unterschiedlichste Knopfvarianten zu einem schnellen Elektrobeat aneinander; der Regisseur ist weltweit als Knopfbildsammler unterwegs. Der Fetischismus eines vermeintlich funktionalistischen „Drükkens" tritt dabei offen zutage. Aguado wird es Spaß gemacht haben, der Zuschauer darf sich wundern. Ein Randblick auf die Ästhetik eines vermeintlich funktionalen Dinges: Der Kurzfilm als Genre scheint des öfteren eines Gebrauchs durch derart obsessive Sichtweisen auf kleine Alltäglichkeiten zu erliegen. Die Frage ist nur: Warum ist der Film vier Minuten und 29 Sekunden lang und wieso genügt nicht ein Knopf?

Eine reine Formspielerei ist auch der Abschlußfilm The Strip Mall Trilogy von Roger Beebe, ein dreifacher Collagenreigen aus städtischen Signalen, Buchstaben und architektonischen Formausschnitten. In der Eingangssequenz erzählt die Off-Stimme, daß sie gerade in eine Stadt gezogen sei, in der das höchste Gebäude ein Holiday Inn-Hotel ist, sonst gebe es hier nur shopping malls. Sie wolle nun wissen, wie sie hier leben solle und würde jetzt in die Mall gehen, um eine Antwort darauf zu finden oder um Rache zu nehmen. Man schnellt im Fernsehsessel auf, denkt, jetzt wird es endlich spannend – Mall-Horrorszenarien (nicht zuletzt in Dawn of the Living Dead von G. Romero) gekoppelt mit der heute mehr denn je aktuellen Theorie-Debatte um den kontrollierten Raum der shopping malls von Jochen Becker bis Stefan Römer beginnen in der Erinnerung aufzukeimen – und dann folgen aufs neue formale Spielereien. Beide Kurzfilme erinnern an Videoclips für elektronische Musik, sie würden sich dazu eignen. Doch Beebe läßt im Booklet wissen, daß er mit diesen gesammelten Formausschnitten städtischen Mobiliars im weitesten Sinne seine „eigene emotionale Landkarte in dieser Stadt" erstellen wollte. Hat er also den ortlosen Raum verortet? Er scheint sich für die Rache entschieden zu haben. „Green means Go" haben wir auf einem Ampelsignal ja bereits am Beginn zu lesen bekommen.

Von Anfang und Ende der Kompilations-DVD zu den Filmen in der Mitte: Corinna Schnitts Raus aus seinen Kleidern ragt in seinem unaufgeregten Experimentalfilmgestus inmitten anderer, man möchte fast sagen, klischee-experimenteller Kurzfilme heraus. Wir bekommen hier keinen Drogentrip, grobkörniges Schwarz-Weiß oder verwackelte Tunnelfahrten serviert, kein Testen des Zeitraffers oder suggestiver, schneller Schnitte, sondern wir sehen einer jungen Frau ausgedehnte Minuten lang beim „Lüften" eines einzigen Wäschestückes zu. Diese Frau steht auf einer Dachterrasse inmitten einer Stadt, die sich uns im Laufe des von ihr wegziehenden Kamerazooms (der auf Michael Snows Wavelength anspielt) erst immer mehr erschließt. Eine Frauenstimme erzählt uns dazu aus dem Off in einem konzentrierten Plauderton von der für sie äußerst wichtigen Tätigkeit des Wäschewaschens und den alltäglichen Problemen, die sie damit hat. Das Unverständnis der Freunde und der Wäschetick als obsessives Bedürfnis der Erzählerin prallen aufeinander. Sie macht uns zum gebannten, wenn auch ungläubig-lauschenden Zuhörer, dessen Blick die urbane Situiertheit einer einzelnen Person in aller Ruhe observiert. Von „Fremd- und Selbstaufmerksamkeit, einer Art Rückversicherung des eigenen am fremden Leben" könnte man mit Marc Ries sprechen – und das durch eine Situation der Kontrolle an einer eher langweiligen Lebenswelt, die durch das Ende des Zooms, in welchem wir uns unerwartet der Erzählerin gegenüber finden, mit einem Augenzwinkern zerstört wird. Der erste Kurzfilm dieser Kompilation, der einen starren macht. Eine Einstellung genügt. Oder ein Punkt.

Tina Kaiser

> www.lowave.com

 
 
 
Ausgabe 04 - 2004 © scheinschlag 2004