Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Antreten, präsentiert die Fahrkarten!

Die BVG experimentiert mit alten Formen

Seit dem 5. April heißt es bei den Berliner Bussen: vorne einsteigen und dem Fahrer die Fahrkarte unter die Nase halten. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) erklären hierzu, es handele sich um eine innovative Methode, die sich in westdeutschen Städten und einem Großversuch in Spandau bewährt habe. Sie werde Mehreinnahmen in Millionenhöhe bringen. Man freut sich als Fahrgast über den Mut zu Neuem und Ungewöhnlichen, der im Berliner öffentlichen Nahverkehr herrscht. An dieser Stelle eine kurze Geschichte der Einsteigeregelungen.

1987: In der piefigen Frontstadt Westberlin herrscht ungebrochen der preußische Militarismus: An Bushaltestellen formieren sich die Bürger in Reih und Glied, um bei Einfahrt des Busses einzumarschieren und die Fahrkarte zu präsentieren.

Im Tarifbereich der (Ost-) BVB hingegen herrscht die freiwillige Selbstkontrolle: Der Bürger zeigt bei Betreten der Öffentlichen den Mitreisenden, daß er seinen Unkostenbeitrag (20 Pf.) geleistet hat. Vereinzelte konterrevolutionäre Elemente beteiligen sich hieran jedoch nicht.

9. November 1989: Die Kunden der BVB enttarnen die freiwillige Selbstkontrolle als perfide Form der Bespitzelung des Bürgers und erkämpfen ihre Freiheit. Fortan herrscht freier Zutritt zu allen Verkehrsmitteln. In Westberlin bleibt alles beim Alten.

1993: So hatten sich die Ostberliner die Vereinigung nicht vorgestellt: Die BVG schluckt die BVB und zwingt deren Kunden dieselben Kasernenhofmanieren auf ­ Antreten, präsentiert die Fahrkarten! Manche beginnen, sich die guten alten Zeiten zurückzuwünschen.

1996: Aus historisch noch vollkommen ungeklärten Gründen beschließt die BVG das Undenkbare: Alle Fahrgäste dürfen im gesamten Tarifbereich durch alle Türen eindringen, Fahrkarten dürfen in den Hosentaschen bleiben. Man glaubt, die Aufklärung habe endlich auch Berlin erreicht.

1998: Die BVG bereut ihre großzügige Entscheidung. Vor allem in den Nachtbussen sehen manche Passagiere viel zu glücklich aus, als daß sie bezahlt haben könnten. Folglich müssen sich die Busfahrer ab 20 Uhr wieder diverse Papierschnipsel unter die Nase halten lassen. Der rechte Exerzierschritt will aber bei den ab dieser Uhrzeit meist alkoholisierten Berlinern nicht mehr so recht aufkommen.

5. April 2004: Die BVG übernimmt eine innovative Methode aus Westdeutschland, die besagt: Vorne einsteigen, dem Fahrer die Fahrkarte unter die Nase halten. Wir empfehlen hingegen: Die Schweiz soll seit Jahren gute Erfahrungen mit einem hierzulande gänzlich unbekannten System namens Freiwillige Selbstkontrolle machen. Wie wäre es mit einem Großversuch in den ehemaligen Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg, Pankow, Weißensee und West-Staaken?

Malte Fuhrmann

 
 
 
Ausgabe 04 - 2004 © scheinschlag 2004