Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Europa erreicht die polnische Provinz

Im polnischen Dorf Urad entstehen Visionen im Wodkarausch – die EU dagegen wird keine Wunder bewirken

Wenn Urad der Europäischen Union beitritt, wird am Abend im Dorf ein Fest gefeiert. Nicht des Beitritts wegen, sondern weil die Urader ohnehin gerne feiern. Manchmal gibt es einen Anlaß, manchmal hat einfach jemand Geld für Wodka oder Bier.

Urad ist ein polnisches Dorf an der Grenze zu Deutschland. Hinter der Kirche fließt die Oder. Jenseits davon ist die Welt zu Ende. „Wilder Westen" wird dieser letzte Winkel Polens mitunter genannt. Eine komische Gegend, sagen Leute aus Warschau, tiefste Provinz ­ so richtig Polen wäre das nicht. Nun starren für kurze Zeit die Medien auf die Städte und Dörfer an der Grenze zu Deutschland, weil das hier die Nahtstelle zwischen dem „alten" und dem „neuen" Europa sei. Als würden hier jetzt Wunder geschehen.

Doch in Urad passieren so schnell keine Wunder. Und wenn eins passiert, dann hat vielleicht einer im Wodkarausch eine Vision gehabt. Das kann natürlich vorkommen. Aber sonst ­ kläffen hier die Hunde an den Gartenzäunen, hacken die Leute ihr Holz zum Heizen, trinken die Männer am Tage im „Sklep", und Transzendentales geschieht kaum.

Das Zusammenwachsen Europas kündigte sich in Urad vor kurzem an, als vor dem Spritzenhaus ein Wagen mit Warschauer Kennzeichen hielt. „Wenn ein Wagen aus Warschau parkt, heißt das selten was Gutes", kommentierte eine Frau, die gerade vor die Haustür trat. Der Wagen gehörte der „Agentur zur Modernisierung der Landwirtschaft", die den Leuten aus Urad erklären soll-te, was es bedeutet, Teil der EU zu werden.

Die Feuerwehrremise ist im Dorf der zentrale Ort des öffentlichen Lebens. Hätte sich der Ministerpräsident Polens zu einem Besuch angemeldet, wäre auch er hier empfangen worden. In der Remise gibt es braune Metallstühle, die man stapeln kann. Wenn Tischtennisturnier ist, stehen sie als Turm in einer Ecke, wenn Disco ist, stehen sie um die Tanzfläche herum.

Für den Empfang der Vorboten der EU hatte der Urader Dorfvorsteher ­ der „Soltys" ­ sie zu einer Art Konferenzsaalformation gruppiert. Wären die bunten Strahler an der Decke der Remise nicht gewesen und der Boden in Linoleum, abgelatscht, tannengrün, hätte es sehr offiziell ausgesehen.

Nun war der Leiter der Agentur zur Modernisierung der Landwirtschaft nicht der Ministerpräsident Polens, doch auch er trug ein Hemd und ein Jackett und fröstelte im Urader Feuerwehrhaus. Hier ist es nämlich kalt, auch wenn draußen die Sonne scheint, denn durch die schmalen Fenster mit den braunen Vorhängen dringt nur wenig Licht. Aus dem Dorf waren zwölf Männer und zwei Frauen erschienen, nach und nach und ohne zu grüßen, in dicken Stiefeln, Parkas oder wattierten Jacken. Den Leiter der Agentur zur Modernisierung der Landwirtschaft wies ein Namensschild als Herrn Piórkowski aus, und er wirkte in der Remise sehr fremd. Nicht wegen seines Anzugs, sondern wegen seines Lächelns. Herr Piórkowski lächelte die Urader in einem fort gewinnend an. Und die Urader saßen und beguckten Herrn Piórkowski. Sie besahen Herrn Piórkowskis Lächeln etwa so, wie man einem Tropfen zusieht, der dem Priester beim Predigen von der Nase rollt. Etwas, das interessant ist, weil es nicht recht hierher gehört. Und faszinierender als die Predigt, der man nicht unbedingt zuhören muß.

Die EU soll eine neue Ordnung bringen, das war die Botschaft, die alle mitbekamen ­ ob sie nun hinhörten oder nicht. Aber was soll das heißen? Herr Piórkowski erklärte, was es heißt. „Das Schlachten muß man humanisieren!" sagt er. Nicht so, wie man es hier in diesem Lande macht: Der Bauer steht vor dem Schweinchen und schlägt ihm ein Beil in den Kopf, das Schweinchen kippt um, das Blut tropft in eine Schüssel: „Ein schreckliches Bild!" Der Bote Europas erschauert. Das sei „Prinzip Amerika!" Wenn Polen nach Europa kommt, werde im Schlachthaus geschlachtet.

Zuguterletzt soll es Gold regnen, wenn die EU kommt. Für jeden Hektar polnischen Landes, das eine polnische Weizenähre oder einen polnische Kohlkopf hervorbringen könnte, gibt es 118 Euro ­ jährlich. Es dürfen nur solche Bauern Anträge stellen, die mehr als einen Hektar Land besitzen. Und weil das Prinzip der Ordnung herrschen soll, werde jeder Antrag auf Subventionen mit dem Grundbuch verglichen. Piórkowski hat eine Karte mitgebracht, die die Grundstücksgrenzen laut Kataster zeigen. Er projiziert sie mittels eines Overheadprojektors an die Wand.

Bis jetzt hat der Dorfvorsteher, der Soltys von Urad, mit verschränkten Armen am Rande gestanden. Nun muß er doch einschreiten, merkt er, um den Fremden aufzuklären. Der Soltys ist ein stämmiger Mann mit freundlichen blauen Augen, dem links ein Daumen fehlt. Er tritt einen Schritt vor. Er sei sehr für Ordnung, sagt er. Und er begrüßt die EU, von der er annimmt, daß sie eine Art Sozialismus wiederbringe, eine Art Planwirtschaft oder neue Kollektivierungen. Doch die Sache mit den Grundstücken handhabe man in Urad auf andere Art. Man trenne die Felder oder lege sie zusammen, kaufe oder verkaufe, wie es die Lage erfordere. Und das Grundbuch lasse man immer so, wie es ist. Das spare das Geld für den neuen Eintrag. Die letzten Änderungen im Grundbuch stammten aus den siebziger Jahren. Sie hätten mit den heutigen Grundstücksgrenzen nicht viel zu tun. Der Soltys trug dies im Stil einer sachlichen Erklärung vor, ohne den Anflug eines schlechten Gewissens. Und Piórkowski streichelte nachdenklich seinen metallenen Zeigestock.

Den meisten Leuten aus Urad ist es gleich, wie hoch die Subventionen sind. Zwar lassen die Angaben über den Landbesitz durchaus ein bißchen Raum für Phantasie. Denn wer will kontrollieren, wem in Urad wirklich welches Stück Wiese gehört? Auch Grenzsteine sind hier nicht Steine des Anstoßes, wenn sie nicht ganz richtig stehen. Und Piórkowski berichtet, die Urader hätten bereits heute für mehr Land Subventionen beantragt, als Urad insgesamt Hektar hat. Doch auch wenn die Bauern bauernschlau sind und – in welchen Zeiten auch immer – den Basar der Bürokratie um eine Handvoll Mehl erleichtern, es wird keiner davon reich. Es sind 118 Euro für einen Hektar Land, die die EU im Jahr bezahlt. Wer große Ländereien hat, kann damit schachern. Wer einen Hektar oder zwei besitzt, für den ist es nicht mehr als ein Bier am Abend, das Europa ihm ausgibt – oder zwei, wenn er bescheißt. Einem Bewohner von Urad gehört meist nicht mehr als ein knapper Hektar Acker, Wiese oder Wald. Sollte es aus europäischen Eimern Bares regnen, dann nicht auf die Erde von Urad.

Die Urader erwarten von der EU keine Verbesserung ihrer Welt. Schlimme Befürchtungen hegen sie auch nicht. Die Alten haben die Umsiedlung an die Westgrenze erlebt, sie haben den Sozialismus überstanden und die Marktwirtschaft, sie wird auch die EU nicht zur Strecke bringen.

Für solche, die versuchen, auf dem Markt zu bestehen, wird es nach der Union sehr viel schwerer werden, das wissen die Spatzen auf dem Dach. Doch wer in Urad verkauft denn etwas auf einem europäischen Markt? Es gibt einen einzigen Bauern am Ort, der in dieser Dimension wenigstens träumt. Es gibt ein paar andere, die haben einige Kühe im Stall. Die Milch ist noch warm, wenn die Leute sie in Eimern holen. Der örtliche Sklep kann für Wurst und Klopapier nur deshalb hohe Preise nehmen, weil seine Käufer bei ihm anschreiben dürfen. Und weil manche selten das Dorf verlassen. Und weil die Urader auf sein Flaschenbier angewiesen sind. Viele aus dem Dorf fällen Bäume im Wald und machen Business, nebenbei. Es gibt Familien, deren einziges amtliches Einkommen die Rente der Großeltern ist – und die beträgt etwa 400 Z[oty. Man weiß nicht wirklich, wie sie ihr Brot verdienen, was vielleicht besser so ist. Doch solange es Geld für Wodka gibt, wird es wohl irgendwo hergekommen sein. Nach Gesichtspunkten der klassischen Marktwirtschaft dürfte es Urad gar nicht geben, streng genommen. Vielleicht erscheint von diesem Standpunkt aus eine wirtschaftlich nicht weniger unmögliche Zukunft durchaus planbar.

Schlachten jedenfalls werden die Urader wohl immer auf tradierte Art. Andrzej Gontarczyk besitzt von allen Uradern die meisten Kühe und Schweine. Ein Opel Astra mit Hänger ist auf seinem Hof vorgefahren. Ein Mann in Gummistiefeln ist ausgestiegen, er hat eine Sau ausgesucht und einen Preis ausgehandelt. Andrzej zerrt das Tier nun aus dem Stall, es quietscht um sein Leben, bremst und bockt und drückt die Beine durch, daß im Matsch eine Furche entsteht. Andrzej ist ein ruhiger und sanftmütiger Kerl. Sein Schweinchen zieht er ungerührt hinter sich her, nimmt ein Beil, versetzt ihm einen Schlag und schneidet ihm die Kehle durch. Das Tier kippt zur Seite. „Prinzip Amerika", würde Herr Piórkowski sagen und würde sehr traurig sein Zeigestöckchen streicheln. Ob man so schlachten darf? „Das ist nicht Schlachten", erklärt Andrzej entschieden. Er habe das Tier nur fertiggemacht, für den Transport. Das habe er immer schon so praktiziert. Er packt die tote Sau an den Füßen, wuchtet sie mit einem Ruck auf den Hänger und wischt sich die Hände an den Hosen ab. Der Fremde klappt die Tür und startet seinen Opel.

Tina Veihelmann

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