Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kurznachrichten

wahr

Die Sozialsenatorin hat die Wahrheit über die Berliner Armut auf den Tisch gelegt. Die statistische Wahrheit jedenfalls. Nach dem neuen „Sozialatlas" kommen hier knapp eine halbe Million Menschen im Monat mit weniger als 600 Euro aus und gelten damit amtlich als arm. Westdeutschland ist schockiert über die Berliner Verhältnisse. Spiegel-online schrieb noch am gleichen Tag von einer Armutsarmee in Berlin, so groß wie die Einwohnerschaft von Dortmund oder Hannover. Ja, ja, möchte man sagen. Ihr in euren schönen, überheizten Wohnungen, die ihr morgens noch zur Arbeit geht! Hier ist die rauhe Wirklichkeit schon angekommen, und ihr werdet euch noch umgucken! Und man ist ein bißchen stolz darauf, daß wir trotzdem immer noch klarkommen, irgendwie, mit all unseren komischen Jobs oder als Existenzgründer mit unmöglichen Plänen. Da fühlt man sich ein bißchen beleidigt, wenn Spiegel-online aus Hamburg von den verdreckten Armutsvierteln berichtet, in denen wir Elenden leben müssen. Die Wahrheit ist: Kreuzberg ist sowieso viel lustiger als Hamburg-Altona. Wir haben zwar kein Geld, und eine realistische Chance haben wir auch nicht. Aber euer Mitleid brauchen wir deswegen noch lange nicht.

schön

Nach Universal Music kommt nun auch MTV nach Berlin und belegt eine Lagerhalle am Osthafen. Die Hafengesellschaft spricht schon von einer „Medienmeile" mit „Magnetwirkung". Hier kann man die Leichen der Friedrichshainer Clubszene fleddern ­ und spart auch noch Geld, denn das Miet- und Lohnniveau liegt weit unter dem der Medienzentren Hamburg und München. Aber den Musik-Managern sei Vorsicht angeraten, denn Berlin ist nicht umsonst so kaputt. Nebenan bietet der Casinogarten in der hellen Sonntagssonne großartig dreckige After-Hour-Parties. Im Gestrüpp am Ufer winken Tanzende den ebenfalls bedröhnten Passagieren der Ausflugsboote zu. Zwei Strände mit Grill und Pfandbecher-Cocktails sind entstanden und gegenüber, auf der Kreuzberger Seite, treibt seit neuestem ein Swimming-Pool im Fluß. Die Büroarbeiter der Medienmeile werden diesen Sommer ganz schön zu leiden haben.

nicht gut

Man ahnte es schon: Nach der Abschaffung von Sozial- und Arbeitslosenticket und der Ablösung des Zwei-Stunden-Fahrscheins durch das von der BVG mit dem Prädikat „attraktiv" versehene One-Way-Ticket ­ eine regelrechte Verhöhnung des Fahrgastes ­, ist das Unternehmen gewillt, noch eins draufzusetzen. Die BVG plant, im Dezember dieses Jahres ihr Netz umzustrukturieren. Da redet man euphemistisch von einem „Metronetz" mit Taktsystem und gerader, unkomplizierter Linienführung, das einen auf dem schnellsten Wege von einem Ort zum anderen bringen würde, obwohl die Verkehrsbetriebe scheinbar nur beabsichtigen, Routen stillzulegen, Haltestellen abzubauen und den Verkehr in den Außenbezirken am liebsten einzustellen: 40 Metrolinien „mit hohen Geschwindigkeiten und kurzen Taktzeiten" sollen eingeführt, dafür aber allerorten, besonders aber in den Randgebieten, Bus- und Straßenbahnlinien „ausgedünnt" werden. Hinzu kommt, daß die Verkehrsberuhiger der BVG ihr Konzept nicht mit der S-Bahn abgestimmt haben. So wird wohl kaum ein Fahrgast, der auf BVG wie auf S-Bahn angewiesen ist, schneller ans Ziel kommen. BVG-Vorstandsvorsitzender Andreas Graf von Arnim sagt: „Wir haben gelernt, daß wir in den vergangenen Jahren nicht gut genug waren." Die Frage ist: in wessem Sinne nicht gut genug ­ in dem der Fahrgäste oder dem des Unternehmens?

termine

> Eine Veranstaltungsreihe im Haus der Demokratie setzt sich mit der Geschichte der sozialen Bewegungen in Ost und West auseinander. Sie beleuchtet Aspekte, die weniger medienwirksam wurden und aus dem kollektiven Gedächtnis nahezu verschwunden sind. Zum Beispiel die wilden Streiks von Jungarbeitern oder ein wenig bekannter Aufbruch der jungen Generation in der DDR als Teil der „Achtundsechziger"-Bewegung. „1968 etwas anders", Vortrag und Diskussion am 17. Mai, 19 Uhr, Haus der Demokratie, Greifswalder Str. 4

> Eine Retrospektive des Werkes von Horst Michel, einem profilierten Gestalter von DDR-Gebrauchsdesign zeigt die Sammlung industrielle Gestaltung. Michel verfaßte u.a. ein Manifest „Gesetz gegen die Ausbeutung des Volkes durch Kitsch" und eckte ungezählte Male mit dem DDR-Staatsapparat an. Die Ausstellung läuft vom 7. Mai bis zum 5. September, Sammlung industrielle Gestaltung, Knaackstr. 87

> „Wir – das sind die ersten Jugendlichen im Nachkriegsberlin, vor denen die Eltern ihre Töchter gewarnt haben", erinnern sich Kreuzberger Veteranen der Angry Young Men. Fotos der Kreuzberger Jugendbewegung aus den Jahren 1958-1962, Galerie Knoth + Krüger, Oranienstr. 188, Vernissage am 30. April, 19 Uhr

scheinschlag hat

noch immer Kataloge der Ausstellung bildrepublik ­ 13 jahre fotografie im scheinschlag. Erhältlich in der Redaktion, Ackerstraße 169/170, Mitte. Da das Büro nicht regelmäßig besetzt ist, bitte vorher anrufen unter fon 28599063.

scheinschlag sucht

weiterhin Leute, die über Stadtentwicklung und Stadtpolitik schreiben können und wollen: Bezirkspolitik von oben wie von unten, Stadtentwicklungstendenzen, Umstrukturierungen der Arbeitswelt, außergewöhnliche Kulturprojekte und den gesellschaftlichen Wandel in Berlin. Bei Interesse wendet euch bitte an die Redaktion: fon 28599063, e-post info@scheinschlag.de.

scheinschlag lädt ein

zum Offenen Redaktionstreffen ins Café Village Voice, Ackerstraße 1a. Über künftige Autoren freuen wir uns, auch Neugierige sind willkommen. Das nächste Treffen findet am Sonnabend, dem 8. Mai, um 14 Uhr statt.

 
 
 
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