Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Der Clochard, der dir gleicht

Warme Suppe, Heizungswärme und leises „Highway to Hell" für alle

André Kummer ist professioneller Schnorrer für ein spezielles Lokal in Mitte. Es liegt in der Almstadtstraße 48. Trotz zentraler Lage im teuren Mitte wird hier eine Tasse Kaffee mit 30 Cent beglichen, ein Frühstück mit 50 Cent und eine warme Mahlzeit mit einem „Danke, genug". Wäschewaschen kostet 60 Cent, Übernachten kostet nichts. „Unter Druck" nennt sich das Gästehaus, eine Anlaufstelle für Wohnungslose und Arme.

André ist hier Mädchen für alles. Am Abend zieht er los und besorgt Essen. Er steuert Fleischereien, Bäckereien und Gemüseläden an. An den Verkaufstresen fragt er nach Resten ­ nach Fleisch, das zum Ladenschluß noch immer in der Vitrine liegt, nach Gemüse oder nach Brot. Einmal in der Woche transportiert André 20 Liter Suppe aus Moabit in die Almstadtstraße ­ eine freundliche Spende einer anderen Suppenküche. Weil er kein Auto besitzt, hievt er den Suppentopf in der S-Bahn nach Mitte. „Die Tage, als man eine Wärmestube, Treffpunkt, Mittagstisch und Nachtquartier mit öffentlichen Mitteln betreiben konnte, sind lange Vergangenheit", erzählt er, während er über Papieren für die Buchhaltung sitzt und sich eine Zigarette dreht. Noch immer bekomme „Unter Druck", das weder von der Kirche, noch von der Caritas betrieben wird, Geld vom Bezirksamt. Die Miete zum Beispiel. Doch die Gelder, etwa für den Mittagstisch, seien längst auf ein Almosen heruntergestutzt. Daß die „Berliner Tafel" einmal wöchentlich Nahrungsmittel liefert und der private Cateringservice „Schildkröte" regelmäßig seine Reste spendet, ist mittlerweile in die Versorgung fest einkalkuliert. Und Andrés Geschick als Profischnorrer ­ ehemals ein Zubrot ­ ist seit langem unverzichtbar. Erfahrung hat André: Vor Jahren hat er selbst auf der Straße gelebt und sein Geld zusammengebettelt. Jetzt schnorrt er für das Gemeinwesen. Noch finanziert ihn ein Programm des zweiten Arbeitsmarktes, eine sogenannte „HzA-Stelle" (Hilfe zur Arbeit). Doch im Juli wird auch dieser heimliche Notgroschen gekappt. Das Programm wird nicht neu aufgelegt. Wie es dann weitergeht, weiß man noch nicht.

Nicht nur die Bedingungen, unter denen Einrichtungen wie „Unter Druck" betrieben werden, haben sich in den letzten Jahren spürbar geändert. Es ändern sich auch seine Gäste. Bei „Unter Druck" sitzen Leute zwischen 20 und 40 bei Brötchen, Edamer Käse, Zimbowurst und Frühstückseiern. Es läuft leise „Higway to Hell". Keiner sieht reich aus, doch es hat auch niemand abgeschabte Einkaufstüten bei sich, nirgendwo verfilzte Bärte und verbeulte Hüte. Ein Mädchen im Parka stößt die Tür auf und läßt einen Stoß kalte Luft herein. Sie umarmt einen Älteren mit grauem Spitzbart und begrüßt einen Wollmützenträger in Arbeitsschuhen, der allein an einem Tisch die Zeitung liest. Am Fenster sitzt ein Rotgesichtiger mit einem zugeschwollenen Auge. Neben ihm frühstückt ein junger Latino, mit schulterlangem gepflegtem Haar, über einem Feinstrickpullover trägt er ein Goldkettchen.

„Früher waren es weit mehr deutlich erkennbare Obdachlose, die hierher kamen", erzählt Heidi, eine Sozialhilfeempfängerin, die das Frühstück verteilt. Obdachlose meint sie, wie man sich Clochards vorstellt oder Tippelbrüder, die am Rande der Gesellschaft leben. Mehr und mehr scheint dieser „Rand" mit der Normalität der Gesellschaft zu verschwimmen. „Man kann kaum mehr unterscheiden, wer obdachlos ist und wer nicht", bestätigt André. Viele der Gäste seien schlicht mittellos, bekämen auch kein Geld vom Staat, hätten ab und an Gelegenheitsjobs, seien in Abständen blank und stünden um ein Gratisessen an. Manche derer, die bei „Unter Druck" übernachten, hätten zeitweise eine Bleibe, zeitweise nicht. Sie nächtigten bei Freunden, an der Universität oder in Notunterkünften. Doch diese Leute würden sich nicht zwingend als „Obdachlose" bezeichnen. „Es sind Migranten, Arme, die am Sozialamt gescheitert sind, Studenten, alte Leute aus der Umgebung", versucht er auf Nachfrage seine Klientel zu beschreiben. Berber, Punks und Schnorrer seien es auch. Er zuckt die Achseln. Doch das Stranden von „ganz normalen Leuten" nehme zu, sagt er. Armut sei in Berlin längst keine Randerscheinung mehr.

Wer ein, zwei Stunden mit am Tisch sitzt, und aus den Tassen, von denen keine einer anderen gleicht, mit den anderen Kaffee trinkt, kommt leicht ins Gespräch. Keiner fragt, wer man ist oder was man tut, es sei denn, man erzählt es von selbst. „Journalist, na gut, dann schreib keinen Scheiß." Es wird darüber geredet, was in der Zeitung steht, oder über die Mietpreise in Mitte und Wedding. Auf dem Weg zum U-Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz kommt einem jemand entgegen, den man bereits kennt – von der „Obdachlosentafel". Er winkt: „Bis denn!" Man gehört bereits dazu.

Tina Veihelmann

Bildauswahl und Idee: Jenny Wolf

 
 
 
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