Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Vom Leben in öffentlichen Räumen

Immer mehr und immer jüngere Obdachlose in Berlin

Frühling in Berlin. In der S-Bahn sitzen nicht mehr nur griesgrämige Gesichter, die Straßencafés freuen sich über die sonnenhungrige Kundschaft. Tausende Obdachlose in Berlin können froh sein, wenn sie den Winter unbeschadet überstanden haben.

6800 Wohnungslose wurden im letzten Jahr in Berlin gezählt. Das sind ca. 150 mehr als 2002. Wer aber wirklich obdachlos ist, taucht in keiner Statistik auf. Wohnungslos oder obdachlos zu sein, macht im Amtsdeutsch einen Unterschied. Die Gruppe der Wohnungslosen bilden diejenigen, die ihre Mietschulden nicht mehr bezahlen können, zu einem Bezirksamt gehen und dort um Hilfe bitten. Die Bezirksämter sind verpflichtet, jedem ein Dach über dem Kopf zu gewährleisten. Das bedeutet meist, in einem überfüllten Wohnheim untergebracht zu werden. Mieterrechte gibt es für Wohnungslose nicht, aber es gibt Sozialhilfe ­ und Wohnungslose können gezählt werden, sind also statistisch erfaßt. „Obdachlose" meiden Wohnheime, in denen oft viel geklaut wird, und sie meiden vor allem die Ämter. Genau weiß deshalb niemand, wieviel Menschen in Berlin „die Platte machen" ­ oder „obdachlos" sind.

Dennoch, einen guten Überblick über die Situation der Obdachlosen hat Christiane Pförtner. Sie ist die Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft „Leben mit Obdachlosen", einer Vereinigung von 60 bis 70 Initiativen, die Obdachlose unterstützen. Wärmestuben, Suppenküchen und Nachtcafés gehören dazu. Offiziell wird die Gruppe der Obdachlosen auf bis zu 4000 geschätzt. Träger der Obdachlosenhilfe gehen von der doppelten Anzahl aus. Obdachlose machten einen Bogen um die Ämter, denn „wenn man auf der Straße lebt, ist man vor irgendetwas geflüchtet", so Pförtner. Schulden, Gewalt oder Sucht. Man sehe keinen Ausweg mehr und tauche irgendwann ab. Rund 15 bis 30 Prozent aller Obdachlosen leiden unter Schizophrenie, Depressionen oder anderen Angststörungen. Jahrelanger Alkoholmißbrauch beschleunigt den Absturz.

„Obdachlose sind häufig psychisch krank, und die Obdachlosigkeit macht sie noch kränker", so Pförtner. An dieser Stelle könnte der Ausstieg aus der Gesellschaft noch relativ gut verhindert werden. Dort, wo der Bruch stattfindet, könnte ein Gespräch mit einer geschulten Person die Rettung bedeuten. Darum müßte viel mehr Straßensozialarbeit angeboten werden, beklagt Pförtner. Viele haben sich fest eingeredet, daß sie wegen ihrer Schulden ins Gefängnis müssen. Sie werden sich nicht bei den Bezirksämtern melden und werden zu verschlossenen Einzelgängern. Dabei übernehmen manche Bezirksämter bei Härtefällen einen Teil der Mietschulden und bieten Ersatzdienste an, um den Schuldenberg abzutragen. Aber aufklärende Sozialarbeit auf der Straße ist teuer, und in Zeiten der knappen Kassen wird gespart.

Offensichtlich wird aber an den falschen Stellen gespart. Das läßt auch eine weitere Veränderung in der Schattenwelt der Obdachlosen vermuten. Die Gruppe der Obdachlosen wandelt sich. In den letzten zehn Jahren sank das Durchschnittsalter von 50 auf 38 Jahre, und in Berlin gehen immer mehr Jugendliche in den Wärmestuben ein und aus. „Seit 12 Jahren verschwinden aus den Wärmestuben zunehmend die Obdachlosen mit ihren Plastiktüten, die von der Platte kommen. Es kommen immer mehr Jugendliche. Junge Punks in der Obdachlosigkeit", erzählt Pförtner. Das liegt daran, daß nicht mehr wie früher Jugendliche bis zum Alter von 25 Jahren in den Einrichtungen der Jugendhilfe betreut werden, sondern nur noch Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren. Sie seien sehr heruntergekommen, gesundheitlich und psychisch fertig, wenn sie in den Wärmestuben auftauchen, weiß Pförtner zu berichten. Lehrstellenmangel, Arbeitslosigkeit und Kürzungen bei der Jugendhilfe werden den Trend voraussichtlich noch verstärken. Ein Problem, das in dem Forum ihrer AG „Leben mit Obdachlosen" in den letzten Tagen diskutiert wurde. Monatlich treffen sich 50 bis 60 meist ehrenamtliche Helfer, um zu reden, sich auszutauschen und um Hilfsmaßnahmen zu koordinieren.

Ein ganz besonderer Schwerpunkt der AG ist das Problem der Ausgrenzung und Vertreibung der Obdachlosen von öffentlichen Plätzen. 1995 hat die Vereinigung eine Praxis dokumentiert, die zu einem Aufschrei der Entrüstung in der Öffentlichkeit führte und auch das Abgeordnetenhaus beschäftigte. Viele Obdachlose wurden aus der Innenstadt in die Wälder weggekarrt. Pförtner bringt es auf den Punkt: „Man kommt in die `Wanne' und wird ausgesetzt." 150 Dokumente der AG belegen eine Praxis der Polizei, die unter dem Namen „Verbringungsgewahrsam" vom Gesetz legitimiert ist.

Obdachlose passen nicht in das Bild einer Gesellschaft, für die Innenstädte zu Freizeitanlagen und Kulissenlandschaften umfunktioniert werden. Innenstädte gelten als Visitenkarte der Städte, die vorrangig von den Interessen des Einzelhandels geprägt werden, und der Einzelhandel wünscht sich vor allem den ungestörten Konsum. Dieser Trend läßt sich auch an vielen Bahnhöfen beobachten, die nach den Umbaumaßnahmen der letzten Jahre zu Einkaufszentren mit Schienenanschluß geworden sind. Fakt ist allerdings, daß Obdachlose die Öffentlichkeit brauchen. „Öffentlichkeit bedeutet auch Schutz vor Gewalt. Wer in Verstecken lebt, ist schutzlos", sagt Pförtner.

Es mag erstaunlich klingen, aber im Sommer wird das Leben der Obdachlosen noch härter als im Winter. Weniger Hilfsstationen haben geöffnet, und weniger Treffpunkte bedeuten weniger Schutz. „Die Leute sind nach dem Sommer fertiger als nach dem Winter", erzählt Pförtner. Menschen brauchen mehr zum Überleben als eine Heizung und Suppe.

Lars Kreye

Bildauswahl und Idee: Jenny Wolf

 
 
 
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