Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Irrlichter

Über Obdachlosigkeit willst du schreiben? Ich bin Ruhrpottkanacker und Gastarbeiterkind, nenne mich Celso oder Barnabas. Ich habe einige Jahre draußen gelebt, ohne feste Bleibe, habe in Spanien auf dem Feld gearbeitet, auf Baustellen, bin herumgezogen. Eine gute Zeit eigentlich, es kommt drauf an, was du draus machst. Ich komme aus armen Verhältnissen. Schreib: arme Verhältnisse. Sag es, wie du willst. Mir haben deshalb nie diese Dinge gefehlt wie Zentralheizung, Futon oder was sonst ein Kinderzimmer beherrscht. Danach hatte ich nie Sehnsucht. Es sind Freundschaften, die mir etwas bedeuten, jemand, den du lieb hast.

Was mir wichtig ist zu sagen, zum Thema „Obdachlosigkeit"? „Obdachlosigkeit", „sozial Ausgegrenzte", „sozial Schwache" ­ das sind Wörter, die ich hasse. Schreib das. Es ist mir wichtig. Diese Worte sind wie ein Tuch, über einen Müllberg gelegt, wie ein Nebel. Es sind Blender. Begriffe, die Labyrinthe aufbauen, allein durch die Sprache. Am Ende des Wortlabyrinths sind Türen wie „sozial schwach" ­ Fallgruben. Was hat „sozial schwach" mit mir zu tun? „Sozial schwach" ­ was für ein Wort! Am Ende des Labyrinths fällst du in eines dieser Behältnisse, die mit diesen Worten bezeichnet werden: „obdachlos", „Sozialfall", „sozial schwach".

Der eigentliche Begriff, der irgendwann durch diese Blender und Irreführungen ersetzt wurde, ist „Armut". Es geht um Armut. Es geht um die Existenz. Sag einfach: Diese Frau ist arm. Das ist ehrlich. Es geht darum, sich kein gesundes Essen kaufen zu können, kein Geld fürs Kino zu haben, sich die BVG nicht leisten zu können. Ich habe einen Industrieberuf gelernt, der, als ich anfing, noch etwas wert war. Wenige Jahre später war er nichts mehr wert. Ich bin gelernter Bergmann. Eine ganze Schicht von Leuten, früher nannte man sie „Proletariat", fällt in ein Loch, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Da reißen überall Löcher auf, Armutslöcher, in die die Leute fallen, alte Leute, junge Leute, Migranten, Mütter, Leute mit niedriger Bildung. Sieh dir Kreuzberg an. Und erzähl mir nicht, daß es so viele Putz-jobs gibt. Ich habe heute einen Job, ich schlage drei Kreuze.

„Obdachlosigkeit" ­ dieses Wort sagt nichts aus. Es sagt, daß du kein Dach über dem Kopf hast. Ohne Obdach, ohne Dach. Mehr nicht. Unter freiem Himmel. Da gibt es solche, die freiwillig herumziehen, Berber, die ihren Stolz haben. Und es gibt solche, die in diese Löcher gefallen sind. „Obdachlosigkeit" sagt überhaupt nichts darüber aus, was los ist, warum jemand kein Dach hat, ein nüchterner, kalter, ekelhafter Begriff.

Wenn ich „Obdachlosigkeit" höre, stelle ich mir einen Sozialarbeiter vor. Aber darum geht es nicht. Sicher gibt es gute und schlechte Sozialarbeiter. Schlechte, die enthusiastisch anfangen und zuviel von sich und der Welt und den Leuten erwarten. Man kann nicht einem alten Sack, dem gerade ein Bein abfault und der seit zwanzig Jahren harten Stoff säuft, erzählen, geh ins Krankenhaus, und ich gebe dir Geld für den Entzug. Der sagt, das ist eine gute Idee, nimmt das Geld und kauft eine Flasche Korn. Und dann ist der Enthusiast enttäuscht, und du bekommst seinen Haß ab. Es gibt auch Gute, die dir eine warme Suppe hinstellen, dich nicht belästigen und dir helfen, wenn du sie fragst. Es braucht Geduld.

Aber darum geht es nicht. Es geht nicht um Sozialarbeiter. Es geht darum, daß auf dem Bau nur noch Schwarzarbeiterkolonnen arbeiten, gute, gelernte Maurer arbeitslos werden und die Schwarzarbeiter nur noch 2,50 Euro in der Stunde verdienen. Nach der Wende hat der Kapitalismus sein wahres Gesicht gezeigt. Ich habe selbst schwarz auf dem Bau gearbeitet. Es geht auch um Alkohol und sonstige Betäubungen. Die Leute merken den Schmerz nicht mehr, dem sie jeden Tag ausgesetzt sind, die Beleidigungen und Demütigungen. Aber das betrifft alle: Professoren, Schauspieler, Arbeiter, Angestellte ­ und meinetwegen auch „Obdachlose", die sich alle ihren Kopf weglöten, weil sie das Leben nicht mehr ertragen.

Nimm den Leuten ihren Stoff weg, damit sie ihre Wut fühlen und erkennen, warum sie dort sind, wo sie sind.

Celso oder Barnabas, aufgeschrieben von Tina Veihelmann

 
 
 
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