Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Was ich vermisse, sind Verlierertypen

Der Lyriker Clemens Schittko über Gedichte und ihre Vermarktung

Du hast vor kurzem damit begonnen, Lyrik in verschiedenen Literaturzeitschriften zu publizieren. Welche Erfahrungen hast du mit diesem Teil der literarischen Öffentlichkeit gemacht?

Die Erfahrungen waren bislang recht unterschiedlicher Art. So schön es auch ist, seine eigenen Texte in vielen kleineren Literaturzeitschriften gedruckt vorliegen zu sehen, scheiterte bislang der Versuch, bei den größeren wie ndl, manuskripte oder SINN UND FORM zu erscheinen. Was, so glaube ich, weniger daran liegt, daß die eingereichten Texte so schlecht wären, sondern eher an der Tatsache, daß in den Redaktionen eine Allergie gegenüber sogenannten „unverlangt eingesandten Manuskripten" besteht und lieber auf altbewährtes Material zurückgegriffen wird.

Bedenkt man, daß es im deutschsprachigen Raum weit mehr als 250, 300 Literaturzeitschriften gibt, von denen vielleicht ein bis zwei Zehntel einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und bekannt sind, so scheinen mir just diese wenig repräsentativ zu sein für das, was zeitgenössische Literatur heute in der Lage wäre zu leisten, wenn man sie ließe.

Wie sieht der deutschsprachige „Lyrikbetrieb" aus? Wer und was sind die wichtigsten Institutionen und Personen und welche Interessen verfolgen sie?

Schenkt man den Zahlen Glauben, die besagen, daß der Marktanteil von verkauften Lyrikbänden am Gesamtumsatz verkaufter Literatur weit weniger als ein Prozent beträgt ­ Tendenz weiter fallend ­, so zweifle ich stark daran, ob man überhaupt von einem „Lyrikbetrieb" sprechen kann. Um heute ein Buch ohne Verluste zu veröffentlichen, muß man so um die 1500 Exemplare verkaufen, was jedoch nur eine Handvoll Lyriker schaffen. Alle anderen werden mit ihren Bänden mehr oder weniger „durchgefüttert".

Demnach sehe ich innerhalb des „Lyrikbetriebs", der im deutschsprachigen Raum ja durch einige Hundert Kleinverlage, Editionen, Handpressen und Literaturzeitschriften mit Auflagen von manchmal nur 100 bis 200 Exemplaren gekennzeichnet ist, nicht die Institutionen und Personen, die auf eine Mehrheit von Lyrikern den Einfluß hätten, der sich für die Literatur nachteilig auswirken könnte.

Was jedoch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zusammenhänge von Bildung, Popkultur, Konsumorientierung usw. anbelangt, so denke ich, daß zumindest eine, wenn nicht sogar die offizielle Szene im „Lyrikbetrieb" massiv von außen und nur von dort „gemacht" und gelenkt wird. Dies zeigt sich insbesondere bei der Vergabe von Preisen und Stipendien, den Ausschreibungen von Literaturwettbewerben, den Honorarzahlungen bei Lesungen durch Kulturbehörden, Stiftungen und Vereine, die oftmals nur unzureichende Literaturkenntnisse besitzen, sowie den wenigen Großverlagen wie Suhrkamp, Hanser oder Kiepenheuer, die letztlich ja darüber mitentscheiden, wer was wie wo veröffentlichen darf und wer nicht.

Lyriker sind unverdächtig, ihrer Passion aus Geldgier zu frönen. Wie erklärst du dir, daß sich dennoch so viele deiner Generationsgenossen, meist bei dürftigsten literarischen Kenntnissen, als Lyriker inszenieren wollen?

Es sind ja nicht allein die literarischen Kenntnisse, die einen Lyriker von einem Nicht-Lyriker unterscheiden, selbst wenn so mancher Germanistik-Student im 6. Semester wohl bessere Gedichte schreibt als viele meiner „Kollegen", ohne damit die Öffentlichkeit belästigen zu müssen. Ich denke, daß dieses Sich-inszenieren-Wollen zu einem generellen Phänomen unserer Zeit geworden ist. Man will ja nicht nur Dichter, Poet und Lyriker sein, sondern man wird auch dazu gemacht. Sehe ich mir heute die Kurz-Vita vieler 20jähriger Autoren an, so könnte man fast meinen, da würden ein neuer Rimbaud, ein neuer Hofmannsthal schreiben oder jemand, der den Großteil seines Lebens schon hinter sich hat, so viele Preise stehen da aufgelistet. Heute erhält man doch ­ wie zu DDR-Zeiten nicht anders ­ für jeden Furz eine Auszeichnung, die in keinem Verhältnis zu dem steht, was geleistet wurde. In der Tat sind Biographien vorhanden, gerade weil das literarische Werk fehlt. Was ich in der heutigen Gesellschaft vermisse, sind Einzelgänger, gescheiterte Existenzen, einfach Verlierertypen, die sich so erbärmlich und einsam fühlen, daß ihnen gar nichts anderes übrigbleibt als zu schreiben, die letztlich diese Einsamkeit sogar aufsuchen, um überhaupt noch schreiben zu können.

Die literaturWERKstatt hier in Berlin propagiert seit längerer Zeit mit einiger Verve Lyrik abseits des traditionellen Printmediums: als „Wortkonzert", Multimedia-Spektakel, in Verbindung mit anderen Künsten. Wie beurteilst du diese Entwicklung?

Für mich stellt das, was Thomas Wohlfahrt in der literaturWERKstatt betreibt, im wesentlichen nichts Neues dar. Artistische Sprachbehandlung finden wir bereits in der Barockliteratur, die ihre Fortführung im 20. Jahrhundert bei den Dadaisten und Surrealisten findet, bei August Stramm und Gertrude Stein ­ nicht zu vergessen die Lautdichtungen, Textmontagen, Seh- und Hörtexte der Wiener Gruppe. Ich finde auch, daß allein über die Sprachmelodie, den Klang der Worte, an denen man sich auf den Veranstaltungen der literaturWERKstatt in einer sinnlichen Art berauschen kann, die inhaltliche Komponente, die ja nun einmal neben der formalen etwa die Hälfte eines Gedichtes ausmacht, fast vollständig verlorengeht. Daß diese Spektakel von Großkonzernen wie DaimlerChrysler gesponsert werden, gegen die sich ein Hans Magnus Enzensberger in den sechziger Jahren noch scharf gerichtet hat, macht diese Lyrik nicht unbedingt sympathischer.

Warum überhaupt (noch) Lyrik?

Viele meiner „Generationsgenossen" sind der Meinung, daß seit der Verabschiedung der Postmoderne und der Avantgarden des 20. Jahrhunderts in der Lyrik eigentlich nichts Neues mehr möglich wäre. Würde diese These stimmen, wäre die Gattung Lyrik mittlerweile schon tot. Wer glaubt denn wirklich ernsthaft daran und schreibt dennoch weiter? Was Gedichte heute noch leisten könnten und was ja eigentlich seit Gottfried Benn so richtig begonnen hat, ist die Frage nach einem Ich, das nicht unbedingt „das lyrische Ich" im Gedicht sein muß. Multimedial wird ja unser Ich immer weiter fragmentiert. Die Aufgabe des Lyrikers könnte es sein, dieses zu defragmentieren, sich auf die Suche nach ihm zu begeben ­ im Kosmos wie in den eigenen Körperzellen.

Interview: Florian Neuner

> Clemens Schittko, geb. 1978, lebt zurückgezogen in Berlin-Friedrichshain

 
 
 
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