Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Karstadt entläßt die Bundesrepublik

Das Ende eines Rituals ­ der letzte bundesweite Schlußverkauf

Foto: Knut Hildebrandt

In diesem Jahr endete der letzte Winterschlußverkauf der deutschen Geschichte. Danach – Schluß, aus. Hät-ten wir uns das je vorstellen können? Deutschland ohne den Schlußverkauf? Die Abkürzungen SSV und WSV plötzlich ohne Sinn? Bei Karstadt erschallen aus den Lautsprechern wie zum Trotz noch euphorisch übersteuerte Männerstimmen, die den WSV anpreisen. Als wäre WSV ein stehender Begriff und würde es immer bleiben. „Der WSV bei Karstadt ... 500 Kindershirts für nur fünf Euro!" Dann eine Meute, die tosend applaudiert. Wer mit geschlossenen Augen zwischen den Kleiderständern steht, könnte meinen, die Hölle wäre los. Wenn er die Augen öffnet, sieht er eine einzelne Frau, die mißmutig an einem der angepriesenen Kindershirts herumzupft. Die Shirts auf dem Warentisch sind fast alle noch ordentlich gefaltet. Keine Konkurrenten. Keine Meute, keine Ellbogen, die ihr in die Seite knuffen, keine Hände, die ihr ein mintgrünes Kindershirt entreißen wollen. Der Applaus aus den Lautsprechern schaltet sich ab. Zurück bleibt textilgedämpfte Karstadtlärmkulisse. „Ja, ich bin enttäuscht", sagt ein Rentner, der die Rolltreppe emporgefahren kommt, „es ist nicht mehr wie früher." Ob es an den Preisen liegt? Die Waren zu teuer? Der Herr schüttelt den Kopf. Er denkt nicht an die Preise, er nimmt Abschied.

Den Abschied läutet ein Gesetz ein, das im Frühjahr rechtskräftig wird. Es heißt „Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb". Es wird den Händlern verbieten, in einer gemeinsamen Großaktion sämtliche Warenlager aller Warenhäuser gleichzeitig zu räumen und ihre Ladenhüter spottbillig auf den Markt zu werfen. Das Argument: Die Lager müssen zwar geräumt, unfairer Wettbewerb aber muß unterbunden werden. Das Merkwürdige ist, vor fast hundert Jahren, im Jahr 1911, wurde ein großer gemeinsamer Schlußverkauf mit dem gleichen Argument empfohlen, damals von einem Textilverband: Die Lager müssen geräumt, unfairer Wettbewerb aber muß unterbunden werden. Damals hieß es, nur wenn alle Händler zugleich ihre Ladenhüter abstoßen, könne kein großer Händler einen kleinen ausbooten und alle hätten gleichermaßen etwas davon. Heute heißt es, gerade ein gemeinsamer Schlußverkauf sei besonders ungerecht. Denn die Großhersteller profitierten einseitig von Rabatten, böten Billigwaren nur noch für den Schlußverkauf an, betrögen die Kunden.

Der Schlußverkauf scheint sich der Argumentation zu entziehen. Es geht um etwas anderes. Er war ein Ritual. Eines, das die untergegangene BRD hervorgebracht hatte. Nach vielen verschiedenen Rabattgesetzen wurde in Westdeutschland im Jahr 1950 der erste richtige, große und gesetzlich verankerte Schlußverkauf eingeführt. Als ein kollektives Ereignis des Konsums für jedermann. In einer Nachricht von 1954 hört sich das so an: Der Winterschlußverkauf ende nun nach zwölf Tagen. Wegen einer Kältewelle seien Winterartikel besonders gefragt gewesen. Es ist von Vätern ohne hohe Einkommen die Rede, die sich einen Tag frei nehmen, um die Familie von Kopf bis Fuß neu einzukleiden. Ein rührendes Bild. Gelebte Utopie sozialer Gerechtigkeit in der Marktwirtschaft, die es im Alltag so nie gab. Man sieht sie vor sich, die braven Väter mit Hüten, die ihre mageren Kinder in frische Hosen stecken. Ein bißchen wie Weihnachten im Februar. Doch der Schlußverkauf verdirbt mit der untergegangenen BRD. Aus dem Fest der neuen Hosen für arme Leute wird bald die entfesselte Lust am Konsum als kollektives Erlebnis. Die BRD hatte an Massendemonstrationen ihrer Paradigmen wenig zu bieten, keine Paraden, keinen Republikgeburtstag. Aber sie hatte die Schlußverkäufe als sich selbst steuernde Massenereignisse, bei denen das Volk sich als Träger der Konsumgesellschaft erleben durfte. Der Kampf um die Waren wurde fühlbar. Die Konsumgesellschaft war noch immer auf Partizipation angelegt, alle durften teilnehmen. Das Massenereignis setzte Hemmschwellen außer Kraft, die jährlich über den Bildschirm flimmernden Nachrichten über Sommer- und Winterschlußverkäufe zeigen den schieren Ausbruch von Anarchie im Kaufhaus. Die Schlacht am Wühltisch um Büstenhalter und Sockenpakete. Selbst Außenseiter dürfen mitmachen. Punks, Hausbesetzer, linke Asketen, die sich sonst in protestantischer Enthaltsamkeit allenfalls eine neue Jeans zulegen, dürfen im Schlußverkauf, gemeinsam mit allen anderen, alles auf einmal kaufen. Denn es ist ja nur jetzt so billig. Und das System ist einfach und für jeden verständlich: Alles ist überall gleichermaßen heruntergesetzt.

Nun ist das Ende eingeläutet. Historisch überfällig und längst überlebt wird das Ritual Schlußverkauf nun faktisch abgeschafft, verboten, qua Rabattgesetz. Der letzte Schlußverkauf – ein Abgesang. Trotz gebotener Preissenkungen von bis zu siebzig Prozent bei Karstadt ist es ein müdes Herumklauben. Menschen, die nicht mehr gemeinsam wühlen und kämpfen wollen. Die fühlen, daß es vorbei ist. Ein Mann in Jeansjacke geht mit einem Akkuschrauber zur Kasse, ist bereits nach wenigen Minuten dran und fragt, ob er zusätzlich zum WSV-Rabatt noch seine persönlich gesammelten Happy-Digits anwenden kann. Die Karstadt-Fachkraft lächelt anerkennend. Der Jeansjackenträger ist ganz weit vorn. Er hat ein Tengelmann-Kaisers-Happy-Digits-Konto angelegt, ein Formular ausgefüllt und dafür eine Karte erhalten, auf der er jetzt Rabattpunkte sammelt – Happy-Digits. Er muß darauf achten, daß das Geschäft seiner Wahl der Tengelmann-Gruppe angehört. Der Mann ist gut organisiert und hervorragend informiert. Sein Akkuschrauber ist auf der Karstadtliste der Happy-Digits-rabattfähigen Waren und es gibt sogar eine Sonderprämie. Der günstige Konsum gehört lange nicht mehr allen. Er gehört nur noch den Besten. Den Qualifizierten unter den Jägern und Sammlern.

Tina Veihelmann

 
 
 
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