Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Gesellschaft im Taumel

Gabriele Tergits Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm

Ein Roman, der in Berlin spielt, in dem es um Bauskandale, Korruption, Vetternwirtschaft und einen Bankenzusammenbruch geht und der davon in einer knappen, verdichtenden Sprache berichtet – zu Recht ließe sich ein Gegenwartsroman erwarten, der sich endlich einmal wohltuend abhebt vom seichten Befindlichkeitsgeschwafel, das heute nur allzugern zwischen zwei Buchdeckel gepackt wird, um unter dem Label „Der neue Berlin-Roman" wohlwollend im Feuilleton besprochen zu werden. Jedoch weit gefehlt. Käsebier erobert den Kurfürstendamm erschien schon 1931 – statt der neunziger geht es um die ach so goldenen zwanziger Jahre – und zeigt dennoch eine Frische, die vielen jüngeren Werken abgeht. Die Autorin Gabriele Tergit (eigentlich Elise Reifenberg), 1894 geboren, war dem Berliner Publikum als kluge Feuilletonistin und engagierte Gerichtsreporterin, eine der ersten Frauen in diesem Ressort, wohl bekannt.

Im Mittelpunkt des Romans steht der kometenhafte Aufstieg eines Berliner Volkssängers namens Georg Käsebier, der in der Hasenheide mit seinem proletarischen Vorstadtpublikum ein bescheidenes Auskommen hat, der „entdeckt" und plötzlich im Kulturteil der großen Berliner Zeitungen besprochen wird, zu dem daraufhin die ganze feine Berliner Gesellschaft strömt, um den herum sich eine ganze Käsebier-Industrie entwickelt (was heute Merchandising heißt), der endlich am Kurfürstendamm ein eigenes Theater bekommen soll, der fallen gelassen wird wie eine heiße Kartoffel, als alle hochfliegenden Baupläne scheitern, und dem am Schluß nichts anderes übrig bleibt, als in der Provinz zu tingeln. Daneben entfaltet Tergit vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Verhältnisse in der Weimarer Republik ein Panorama menschlicher Schicksale, an denen die Krisenhaftigkeit der damaligen Zeit deutlich wird. Neben der Offizierswitwe, die während der Inflation ihr gesamtes Geldvermögen verloren hat und nun gezwungen ist, große Teile ihrer ehemals zur Repräsentation dienenden Wohnung zu vermieten, gibt es die jungen Frauen, finanziell unabhängig und gebildet, also der „Neuen Frau" entsprechend, die trotzdem weiter an die große Liebe glauben. Es gibt die Neureichen, die Aufsteiger, windige Spekulanten und aalglatte Journalisten, und es gibt die anderen, die zum Scheitern verurteilt sind, weil Seriosität und Ehrlichkeit nicht mehr gefragt sind. Tergits Zeitanalyse zeigt eine Gesellschaft im Taumel, der der feste Boden unter den Füßen abhanden gekommen ist, die aber gleichzeitig eine stille Sehnsucht nach Stabilität, nach Beständigkeit des Normen- und Wertegefüges hat.

Tergit hat das Erstarken der Rechten, die Ruhe und Ordnung statt Krise und Unsicherheit versprachen, früh und hellsichtig registriert. Kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten konnte sie gerade noch rechtzeitig fliehen, bevor ihre Wohnung durch die SA gestürmt wurde. Ihr Exil führte sie schließlich nach London, wo sie bis zu ihrem Tode 1982 lebte. Es gelang ihr nicht, an ihre Bekanntheit vor 1933 anzuknüpfen, sie geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Erst Ende der Siebziger setzte eine späte und zögerliche Wiederentdeckung ein. Nicht zuletzt dem beharrlichen Bemühen des Herausgebers Jens Brüning ist es zu verdanken, daß die Autorin heute, mehr als 20 Jahre nach ihrem Tod, nicht nur in germanistischen Spezialkreisen wahrgenommen wird.

Carola Köhler

> Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm, hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von Jens Brüning. Das Neue Berlin, Berlin 2004. 14,90 Euro

 
 
 
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