Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Minimalrate Müllbeat

Suicide, der erlesenste Krach Amerikas

Foto: Shigeru Sato

Alan Vega und Martin Rev, das Avantgarde-Duo aus New York, stellten mit ihrem 2002er Album American Supreme – dessen Cover die US-Flagge demonstrativ im Schwarzweiß-Negativ zeigt – einmal mehr unter Beweis, daß das Elektropop-Genre, mehr noch als alle anderen Gattungen populärer Musik, doch sehr von der Ausstrahlung, dem Charisma der jeweils vortragenden Akteure abhängt. Wenn es heißt: „Raus auf die Bühne, Vortrag!", gehen sie halt raus, wie sie sind. Und sie sind immer bereit. Bereit, genau das zu geben, was die Menge braucht. Und deren Anspruch ist hoch. Sie will kühle Beats, neue Beats, nüchterne, stilvolle Bewegungen, treffsichere Lyrics, authentischen Ausdruck und nebenbei mal das richtige Feingefühl, wie man gerade mit der Zeit- und Weltstimmung zu verfahren hat. Fertig.

Vielleicht liegt das Geheimnis von Suicide im extrem minimalisierten und mülligen Grundgerüst ihrer Kompositionen. Müllig in dem Sinne, daß nichts sauber, bekannt, geordnet, klassizistisch erscheint. Sie schmeißen nicht planlos herum mit diesem Müll, dekonstruieren nicht ­ siehe frühe Einstürzende Neubauten. Sie werten ihn zu 100 Prozent als brauchbare Erfindung, als ein positives, Erstaunen erweckendes Ding. Vega und Rev ringen dabei ihren Instrumenten seit zweieinhalb Jahrzehnten immer neue Klänge ab. Paradoxerweise ohne jemals ihren Stil geändert zu haben. Sie arbeiten fast ausschließlich mit Sequenzern (bei dieser Methode können über eine Tastatur mehr oder weniger komplexe Programme live abgerufen werden). Ihr neuer Sound scheint lediglich aus einer höheren Anzahl gespeicherter Quellen zusammengesetzt. Diese Zutaten bringen ­ immer aufs Neue ­ schlichten Rock'n' Roll, Punk, Rockabilly, Chanson hervor. Hinter diesem Schleier der Einfalt verbergen Suicide dezent ihre große Klasse. Die Namen der neuen Stücke, wie z.B. „Dachau, Disney, Disco" unterstreichen Suicides weltmusikalischen Anspruch. Der Zeitgeschmack verlangt guten elektronischen Punk, Rock'n'Roll, Pop. Darunter sind großartige neue Bands, wie zum Beispiel Fisherspooner, Electronicat oder Swayzack. Je minimalistischer deren Musik ist ­ und das heißt im Extremfall Sequenzer und Stimme ­, desto stärker treten darin Person, Ausdruck, Stimme in den Nah-Wahrnehmungsbereich ... bilden sozusagen den spreufreien Weizen. Und der macht diese Art Musik dann so unwiderstehlich lebendig und anziehend. Direkter, unverstellter als andere Körpermusiken, die mit überbordender Formation und Instrumentierung daherkommen, ist dieser Elektropop im Grunde eng verwandt mit Hip-Hop. „Dies ist keine Dichterlesung, los, bewegt euch mal!" forderte Vega in einem seiner Konzerte. Dichter pflegen halt zu sitzen und abzulesen. Ausnahmen: die Social-Beat-Bewegung, einige Spoken-Word-Aktivisten, der junge Handke oder ein Kinski auf Jesus-Tour. Daß Kopf und Bein in Rage geraten, dazu bedarf es schlicht eines Quentchens Beat ... wie es im Hip- Hop der Fall ist.

Daß Suicide im Januar wieder in Berlin aufgetreten sind und wie sie dabei ihre neuen Multi-Ressource-Müllbeats abgespielt, Texte vorgetragen und mit ihrem Publikum getanzt haben, das war sehr beindruckend und gelungen. Es ginge schon noch härter, noch schneller, viel lauter, wie u.a. Atari-Teenage-Riot bewiesen haben. Oder mit mehr Pop-Appeal, siehe die Sparks, Depeche Mode. Dieser gescheite Hardcore-Minimalismus aber paßt deshalb gerade so perfekt zu unserer sozialarktischen Seelenlage, weil er von zwei unerschrokkenen Typen, guten Amerikanern, Polit-Rockern, in zotiger Karate-Tanz-Haltung kommt ­ mit nichts als einem Keyboard, das diese feingetunten, von langer Hand vorbereiteten, unerhört originellen und extrem harten Beats hämmert ­, so daß draußen das Eis auf den Windschutzscheiben schmilzt. Der Club, das polar.tv, hatte hier auch gepaßt. Eine Baustellentanzbude in der Berliner Prachtmitte. Die Stimme von Vega oszillierte zwischen (amerikanischem) Botschafter-Ton, Rockabilly-Jauchzen und Country-Schmacht-Baß, prangert die ganze soziale Härte ­ in Amerika ­ an. Das reicht schon, ich glaube alles und bin betroffen. Unermüdlich appelliert Vega, lapidar, holpernd, auf textlich höchstem Niveau an humanistische Werte und schwingt sich dann nach einer Pause noch einmal berührend zu seinem Liebes-Chanson herab („Cherry"). Der Mann weiß, was Marcuse und Kapital-Gesellschaft bedeuten. Dennoch mischt er seine Wut stringent mit Soul.

Nach jahrelanger Solotätigkeit und vielen guten, teils genialen Plattenaufnahmen für sein französisches Hauslabel Musidisc (welches leider nie mehr als einige tausend Alben pressen ließ, um sie danach in die Regale von drei, vier französischen Läden zu befördern), haben sich Martin Rev und er wieder zu Suicide verbündet. Auch haben sie einen neuen Platttenvertrieb gefunden: das Londoner Mute-Label, von dem (wohl nicht zufällig) auch Depeche Mode und die Neubauten betreut werden. Ein Glücksfall für die Fans, die immer von einer Suicide-Platte geträumt haben. Und für die elektronische Tanzbewegung, die im schweißehrlichen Mix aus Techno und Punkrock ihr neues Heil sucht. Denn in Suicide haben sie echte Messiasse, sonnenbebrillt, wahlweise knochenhart oder zuckersüß im Gebaren. Faule Avantgardisten, intellektuell rauhe, aber körperlich feinsinnige Menschen ­ und noch dazu ehrliche Nachbarn aus der großstädtischen Wohnbatterie, die dem Hörensagen nach in nächster Zeit noch ein drittes Mal nach Berlin kommen sollen. Bis dahin sei euch das Berlin-Konzert seiner Eminenz Knarf Rellöm empfohlen, welcher energetisch und inhaltlich als legitimer Suicide-Stellvertreter auf deutschem Boden gelten könnte, so er denn Anspruch auf diesen Titel erheben würde. Daß er es nicht tut, hat seinen Grund. Seinen Zorn versprüht er ebenfalls nie ohne den heilenden Soul-Inhaltsstoff. Und gute Propheten verzichten eben gern mal auf bürokratische Exegese.

Jörg Gruneberg

> Tonträgertips:
Suicide – American Supreme, 2002 (Blast First/Mute);
Suicide ­ Suicide, 1977 (Musidisc);
Alan Vega – New Raceion, 1993 (Musidisc);
Knarf Rellöm (With The Shishashellöm) – Einbildung Ist Auch 'Ne Bildung, 2004 (CD_Zick-Zack/Indigo)

 
 
 
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