Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Ekstasen der Autorschaft

Friedrich W. Block über Literatur im digitalen Zeitalter

Der Literaturwissenschaftler Friedrich W. Block, geb. 1960, ist Kurator der Stiftung Brückner-Kühner in Kassel. Zusammen mit Benjamin Meyer-Krahmer hat er die Ausstellung p0es1s. Digitale Poesie gestaltet, die noch bis zum 4. April in den Sonderausstellungshallen am Kulturforum zu sehen ist. www. p0es1s.net

Seit wann gibt es digitale Poesie?

Seit den späten fünfziger Jahren. Damals wurden erste Experimente auf Großrechenanlagen gemacht, etwa von Theo Lutz im Stuttgarter Kreis von Max Bense oder von Brion Gysin. Es gibt dann eine verschärftere Beschäftigung in Frankreich seit Mitte der Siebziger im Dunstkreis von OULIPO, also der Werkstatt für potentielle Literatur, wo relativ früh der Gedanke auftauchte, mit Programmiersprache zu dichten. In Frankreich nimmt das auch relativ schnell institutionelle Formen an. In den achtziger Jahren verstärkt sich das Interesse international mit der Verbreitung des Computers als Massenmedium beträchtlich. Aber sicherlich erst mit der Einführung des Internet wird das derart breitenwirksam, daß auch ein gesteigertes Reflexionsniveau erreicht wird, was sich darin niederschlägt, daß Anfang der Neunziger erste Gattungsbezeichnungen wie „Digitale Dichtkunst", „Electronic Poetry" oder „New Media Poetry" auftauchen.

Ähnlich wie damals bei der Konkreten Poesie gab es eine Art internationaler Spontanparallelen. Wir haben 1992 die allererste Ausstellung überhaupt zu diesem Genre gemacht (F. W. Block u. André Vallias: p0es1e. digitale dichtkunst). Loss Pequeño Glazier macht '93 sein „Electronic Poetry Center" auf, und Eduardo Kac gibt '96 ein Theorieheft über „Media Poetry" heraus. Allerdings kommt es relativ schnell zu einer Vernetzung. In Deutschland läuft das seit den späten achtziger Jahren mit Leuten wie Heiko Idensen, dann insbesondere angeschoben durch die Einführung des World Wide Web und die Literaturwettbewerbe, die von Zeit und IBM veranstaltet wurden.

In dieser Ausstellung wird der Arbeitsbegriff „Digitale Poesie" verwendet. Was ist damit gemeint?

Ich finde es schön, die Formulierung Arbeitsbegriff zu verwenden und nicht gleich davon auszugehen, daß man es mit einem Gattungsbegriff zu tun hat. Digitale Poesie ist im wesentlichen Sprachkunst, die sich auf künstlerische Weise mit dem Gebrauch von Sprache in digitalen Umgebungen beschäftigt – sei es jetzt experimentell, sei es spielerisch, sei es kritisch. D.h. die spezifischen Bedingungen wie Programmierung, Multimedialität und Interaktivität werden künstlerisch untersucht. Ausschließen würde ich Arbeiten, die Digitalmedien ausschließlich als Durchgangsmedien benutzen und keinen Reflex aufs Medium selbst beinhalten.

Es handelt sich natürlich nicht um digitale Poesie, wenn jemand einfach Gedichte ins Internet stellt.

Es gibt Projekte, die als Netzliteratur ausgeflaggt worden sind wie das Null-Projekt von Thomas Hettche, die letztlich aber konzeptuell auf eine Verwertung im Printmedium angelegt waren. Das sind Projekte, die mich in diesem Zusammenhang nicht interessieren.

Das Internet ist ein wichtiges Instrument zur Organisierung von Gegenöffentlichkeit, auch von literarischer Gegenöffentlichkeit. Ist es nicht ein Widerspruch, wenn man in diesen anarchischen Raum kanonisierend eingreift, das sozusagen in Katalogen und Ausstellungen wieder einholt?

Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Es gibt in der Ausstellung einige Projekte, die sich von diesem Subversionsgedanken her verstehen. Etwa das poetische Virus von Jaromil, das wir auf T-Shirts und Postkarten verbreiten ­ ein kleines Programm aus nur 13 Zeichen, das, wenn man es in ein Unix-System eingibt, diesen Rechner innerhalb kürzester Zeit zum Absturz bringt. Als Ausstellung ­ das wäre ja eine Paradoxie ­ können wir nicht selbst subversiv sein, weil man sich ja in diesem Rahmen an die Spielregeln des Kunstbetriebs anpaßt. Und was die Distributionsmöglichkeiten betrifft: Es ist mittlerweile trivial, daß man andere Foren hat, die vielleicht nicht unbedingt kommerziell funktionieren und die trotzdem relativ breitenwirksam sind ­ ob das immer noch anarchisch funktioniert oder sich nicht selbst spezifisch organisiert, sei dahin gestellt. Eine besondere künstlerische Option ist mit dem Medium m.E. nicht garantiert.

Es fällt auf, daß viele Arbeiten Versuchsanordnungen bereitstellen und nicht auf ein Endprodukt Text hin angelegt sind ­ auf Artefakte, die man dann genausogut wieder in ein Buch drucken kann. Ist das eine der entscheidenden Innovationen in der digitalen Poesie, daß man von der klassischen Vorstellung von Autorschaft wegkommt?

Ich würde es als ein wesentliches Element ansehen, würde aber nicht sagen, daß Autorschaft verabschiedet wird. Es handelt sich viel mehr um eine andere Form von Autorschaft. Ich beobachte im Zusammenhang mit digitaler Literatur geradzu eine Ekstase der Autorschaft. Viele Rezipienten oder User werden in die Rolle eines Autors versetzt, indem sie aufgerufen sind, selber Text zu produzieren und zu prozessieren. Aber dieser Prozeßcharakter wird jetzt schon seit Jahrzehnten in der Kunst verfolgt, sowohl theoretisch als auch in der Realisation. Nicht umsonst erscheint 1962 Umberto Ecos Offenes Kunstwerk, wo genau darauf abgehoben wird. Diese Abwendung vom Produktcharakter hat eine Tradition wie vieles, was jetzt in der digitalen Poesie stattfindet. Das ist kein radikaler avantgardistischer Schnitt. Das zu behaupten, wäre vermessen und würde sich auch ausliefern an den Warencharakter der neuen Medien, die immer das Neue im Schilde führen und Innovationsschübe mit jedem neuen Device, der erfunden wird, suggerieren. Dem würde man sich künstlerisch unterwerfen, wenn man dieser Fortschrittsmetaphorik huldigen würde.

Dennoch stehen diese Arbeiten dem Literaturbetrieb und -markt entgegen, der ja nach wie vor auf ein Produkt Text und einen Autor, der dahintersteht, abhebt. Ist die digitale Poesie nur ein Seitenweg wie die visuelle Poesie in den sechziger Jahren oder wird sie in Zukunft größere Auswirkungen haben?

Auf solche Zukunftsprognosen mag ich mich nicht einlassen. Ich habe vor zwei Jahren einen Text verfaßt, „Acht Finger digitaler Poetik", da ist die letzte These, daß es sich um eine Marginalie handelt. Ich bin inzwischen nicht mehr ganz so sicher. Ich sehe allerdings nicht unbedingt ein revolutionäres Aufbegehren gegen bestehende Gesetze des Literatur- oder Buchmarktes. Literatur bedient sich ja mittlerweile zu 90 Prozent der digitalen Medien. Jedes Buch läuft erst mal durch alle erdenklichen Phasen von Texterfassung, das gilt auch für den Druck und immer mehr für die Distribution. Nur das Endprodukt ist dann gedruckte Papierware. Wenn man nur einen Schritt davor künstlerisch ansetzt, ist das ein Reflex auf die Bedingungen, wie Literatur heute funktioniert. Aber es sind nicht unbedingt Gegenmodelle.

Könnte eine Wirkung dieser neuen Ansätze sein, etwas aufzusprengen in der post-experimentellen Literatur, die sich scheinbar immer mehr auf das Verfertigen von Artefakten kapriziert?

Das mag ein Aspekt sein. Diese unbedingte Beteiligung des Publikums, diese Interaktivität in unterschiedlichen Freiheitsgraden, dieses konzeptuelle Rechnen mit dem Publikum spielt für den Verfertiger von Anagrammen oder noch hermetischeren Gebilden so keine Rolle. Das ist eine gewisse Ent-Idealisierung des Lesers. In den siebziger Jahren war das nur ein Wunsch der Produktionsästhetik, den Leser ins Boot zu holen. Aber hier muß man ja wirklich mit realen Akteuren rechnen.

Interview: Florian Neuner

Fotos: Jörg Gruneberg

 
 
 
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