Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Recht auf Mobilität

Zum 1. Januar hat die BVG die Sozialkarte für knapp 20 Euro für Menschen mit geringem Einkommen abgeschafft. Jetzt müssen sich Sozialhilfeempfänger jede Fahrtkostenerstattung von der Behörde genehmigen lassen. Fahrten zum Arbeitsamt oder zu Bewerbungsgesprächen könnten unter Umständen beglichen werden, hieß es in der Berliner Verwaltung. Aber ansonsten müßten die Betroffenen eben zu Hause bleiben oder zu Fuß gehen. Schließlich gäbe es kein Recht auf subventionierte Mobilität, verlautete aus Senatskreisen.

Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (früher DKP, jetzt PDS) bekundete in Zeitungsinterviews, wie stark sie mit den Betroffenen leide. Aber von Widerstandsaktionen, gar vom Fahren ohne zu zahlen, hält die ehemalige Kommunistin überhaupt nichts. Doch sie wird damit leben müssen, daß man sie gar nicht um Erlaubnis bittet. Seit mehreren Wochen wird regelmäßig mit Aufrufen zu Schwarzfahreraktionen an eine schon in den siebziger Jahren erfolgreich erprobte Aktionsform angeknüpft. Menschen mit niedrigen Einkommen nutzen ihre Schwarzfahrten für Polithappenings, verteilen Flugblätter und hindern mit Sprechchören Kontrolleure an ihrer Arbeit.

Die erste große Schwarzfahraktion Mitte Januar sollte besonders für Schlagzeilen sorgen. Ein Trägerkreis aus Professoren, Pastoren und Bewegungsaktivisten rief offen zum kostenlosen Benutzen der Verkehrsmittel auf. Der Teilzeit-Politologieprofessor Peter Grottian wollte sogar anfallende Strafgelder bezahlen. Doch die Justiz nahm sogleich die Ermittlungen auf, weil Grottian und der Trägerkreis zu einer Straftat aufgerufen hätten. Das machte den Protest allerdings erst so richtig bekannt. Und die folgenden Aktionen zeigten, daß sich die Betroffenen auch ohne professoralen Beistand artikulieren können.

Die Aktionen sind auch eine Antwort auf das vermehrte Auftreten von Kontrolleuren. „Wir kriegen sie alle!" titelte ein konservatives Berliner Boulevardblatt unter dem Foto mehrerer Kontrolleure. Aber die Abschreckungsstrategien haben längst ihre Wirkung verloren. Und der Senat hat schon auf die Proteste reagiert. So soll es ab 2005 ein neues Sozialticket in Berlin geben, das allerdings teurer ist als das gerade abgeschaffte. Die PDS rühmt sich, daß ohne ihr Engagement ein solcher Schritt nicht möglich gewesen wäre. Die Berlin-Redakteurin des Neuen Deutschland, Karin Nölte, benannte in einem Kommentar die wahren Hintergründe: Es gehe darum, den sozialen Frieden in der Hauptstadt zu erhalten. Doch die nächsten Aktionen sind schon angekündigt.

Peter Nowak

 
 
 
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