Ausgabe 01 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Da gibt's nur noch Schmieren und Wüten

Überlegungen zu Dieter Roth und seinem Nachruhm

Man kann nicht behaupten, Dieter Roth sei zu Lebzeiten ein Unbekannter gewesen. Für den Schriftsteller Roth mag das vielleicht sogar heute noch gelten; der Druckgraphiker Roth war seit den Sechzigern als Meister seines Fachs geschätzt, hatte Lehraufträge in Düsseldorf und den USA, 1982 nahm Roth an der Biennale in Venedig teil. In die allererste Reihe der internationalen Großkünstler, denen weltweit Retrospektiven ausgerichtet werden und die am Kunstmarkt entsprechend hoch im Kurs stehen, hat der bildende Künstler Dieter Roth es aber doch erst nach seinem Tod im Juni 1998 geschafft. Dazu trug sein zweiter, nun bereits postumer Auftritt auf der Biennale von Venedig mit der Video-Arbeit Soloszenen 1999 ebenso bei wie die Präsentation der Großen Tischruine auf der Documenta 11 vor zwei Jahren; eine Retrospektive mit dem Titel Roth Zeit war bis Anfang Januar im Museum Ludwig in Köln zu sehen und wandert demnächst nach New York.

Der Kunstbetrieb konnte Roth, den Querulanten, Rebellen und Alkoholiker erst nach seinem Tod richtig vereinnahmen. Nicht, daß er nicht da und dort mitgespielt, Erwartungen auch erfüllt hätte, aber alles in allem war er doch ein zu unsicherer Kantonist: wildernd in den verschiedensten Techniken und Sparten, interdisziplinär denkend und agierend, immer gegen das Gekonnte und Abgesicherte angehend, gegen die funktionierende Masche, mit der man sich am Kunstmarkt doch am bequemsten einrichtet. Er mißtraute und überwarf sich mit Sammlern, die ihm eigentlich wohlgesonnen waren, boykottierte mit willkürlichen Preisgestaltungen den Markt, der sich um seine Arbeiten zu entwickeln begann. „Er verhielt sich, als hätte er sich mit der Vision auf den Weg gemacht, den Kunstmarkt zu zerstören", schreibt sein Freund Richard Hamilton. Ausgedehnte Aufenthalte in Island, wohin ihn seine erste Ehe geführt hatte, trugen zusätzlich dazu bei, vom Betrieb einen nicht nur geographischen Abstand zu gewinnen.

Heute kann man über Roth, der besoffen Preisverleihungen im Eklat enden und ohne Not eine ihm gewidmete Retrospektive im Centre Pompidou in Paris platzen ließ, Elogen in der FAZ lesen. Er wird dort als Künstler gefeiert, der vollendet schöne Bilder für die Vergänglichkeit alles Irdischen gefunden habe ­ Arbeiten, die zunächst auf große Ablehnung gestoßen waren. Roth arbeitete mit Lebensmitteln, Wurst, Käse, Schokolade, ließ aus dem Schimmel wunderbare informelle Strukturen wuchern. Nicht alle hielten den Gestank in den Ausstellungen aus. Ende der sechziger Jahre, als Roth in Düsseldorf an „Selbstbildnissen aus Eßbarem" gearbeitet hatte, mit Fliegen und Maden als „Mitarbeitern", kam es zu einer Räumung seines Ateliers durch die Akademieverwaltung, bei der alle Werke vernichtet wurden. Auch Sammler waren durch diese Arbeiten vor extreme Herausforderungen gestellt; Restaurierungen der sich zersetzenden Arbeiten lehnte Roth immer ab. Sein berühmtes Portrait of the Artist as Vogelfutterbüste zielt gar auf ein vollständiges Verschwinden. In Hamburg konnte Roth später mit Hilfe eines Mäzens ein „Schimmelmuseum" einrichten.

Als Dieter Roth 1995 seine Große Tischruine in der Wiener Secession zeigte, konnte man dort ein lebendig wucherndes Work in Progress sehen und betreten: Arbeitstische mit darauf festgeklebten Gegenständen, Bild- und Filmmaterial, akustische Aufzeichnungen, dazwischen leere Bierflaschen, die Roth trank, während er in der Ausstellung arbeitete ­ entstanden aus der Idee, einfach mal den eigenen Arbeitstisch in die Ausstellung zu transferieren. „Alles, was ich so habe an Schrott, bringe ich hierher", kommentierte Roth damals die Wiener Ausstellung. Umso irritierender die Wiederbegegnung mit dieser Installation in Kassel: Abgesperrt, nicht mehr zu betreten, war nun alles Leben aus diesem Werk gewichen, war es im Zustand von 1998 gleichsam eingefroren worden, auch wenn Roths Mitstreiter, sein Sohn Björn, weiterhin für Aufbau und Betreuung der Arbeit sorgt; die Bierflaschen aus Wien hatte man getreulich wieder dort placiert, wo Roth sie stehen gelassen hatte.

Roths Spätwerk ist gekennzeichnet von einer so monumentalen wie monomanischen Maßlosigkeit, der formale Kontrollverlust wird gleichsam zum Konzept erhoben. Groß-Installationen wie die Tischruine oder die Gartenskulptur führen ein wucherndes Eigenleben, der Exzeß erhebt Einspruch gegen formale Kalkulierbarkeit, auch gegen das Kunstwerk als Ware. Die Türme aus Filmprojektoren, die Bestandteil der Tischruine sind, erklärt Roth dann etwa damit, daß er auf einen kaputten Projektor jeweils einen neuen geklebt habe.

Roth arbeitete konsequent gegen sein eigenes Handwerk an, sorgte immer wieder systematisch dafür, daß alles aus dem Ruder lief. Sein graphisches Handwerk lernte der 1930 in Hannover geborene Sohn eines Schweizers und einer Deutschen in den fünfziger Jahren in der Schweiz von der Pike auf. In Bern wurde er Teil einer Gruppe von Künstlern und Literaten, darunter Marcel Wyss und Eugen Gomringer, die konstruktive Kunst und konkrete Poesie propagierten und praktizierten und die Zeitschrift spirale herausgaben. Eine radikale Kehrtwendung „vom Konstruktivistischen zum Schmieren" erfolgt 1960 als Reaktion auf die kunstgewerbliche Selbstgenügsamkeit der Konstruktiven, aber auch auf die amerikanische Neoavantgarde der damaligen Zeit: „Da war nichts mehr Experimentelles, kein Durchwühlen und Durchschmieren, das Schwierige im Künstlerleben war nicht mehr da." Die Abkehr von einer coolen, unverbindlichen geometrischen Abstraktion hatte dabei für Roth in erster Linie eine existentielle Komponente: „Wenn Du eingehst, dann hilft diese konkrete Poesie und die Mondrian-Malerei, dann hilft alles nichts. Da gibt's nur noch Schmieren und Wüten."

Die technischen Mittel, so Roth in einem Interview kurz vor seinem Tod, täuschten eine unangemessene Harmonie und Korrektheit vor. Deshalb habe er sich vorgenommen, das „Nicht Können" und seine Grenze zu beschreiben: „Mehr ist nicht zu machen."

Autobiographisches nimmt in Dieter Roths Arbeit im Laufe der Zeit einen immer größeren Raum ein, gipfelnd in der späten Video-Installation Soloszenen, in der Roth auf einer Vielzahl übereinandergestapelter Monitore seinen eintönigen und einsamen Alltag in einer Ausnüchterungsphase dokumentierte: Essen, Schlafen, Duschen, Telephonieren in Island und in Basel. Große Gesten sind Roth in seinen autobiographischen Projekten fremd. Liebevoll registriert und katalogisiert er vielmehr das Ephemere, den Abfall am Rande des Weges ­ bis die ins Maßlose getriebenen Versuchsanordnungen dann doch ins Monumentale kippen: Wenn er etwa „flachen Abfall", Zigarettenstummel, Bierdeckel, Fahrkarten und Werbebroschüren in Ordnern sammelt, so lange, bis diese ganze Regalwände füllen; oder wenn er mit Hilfe von Studenten gleich alle Häuser in Reykjavik photographieren läßt. Nur konsequent, daß Roth eine Zeit lang auch eine Zeitschrift für Alles herausgab, bei der aus Prinzip kein Beitrag, der eine gewisse Seitenzahl nicht überschritt, abgelehnt werden durfte.

In den sechziger Jahren ist Dieter Roth der innovativste Buchkünstler seiner Zeit. Mit Hilfe des Stuttgarter Verlegers Hansjörg Mayer kann er zwischen 1969 und 1987 26 Bände Gesammelte Werke realisieren. Die Drucker in den Werkstätten füllt er mit Schnaps ab, damit sie ihm bei seinen Verstößen gegen die Regeln ihres Handwerks bereitwillig folgen. In der Reihe erscheint auch sein Gedichtband Die gesamte Scheisse, der immer wieder erweiterte Neuauflagen erfährt. Auch das Augenmerk des Lyrikers Roth gilt dem Mißglückten und dem Geschmacklosen, der verrutschten Formulierung, dem überstrapazierten Kalauer. „Einfach nur schreiben, was da ist, was man empfindet oder erlebt hat", so Roth, „dann bekommt der Text auch etwas Gedichthaftes. Man kann das Unglück und den Krampf darunter nicht zum Ausdruck bringen, wenn man das in einen korrekten Satz reinbaut, verwischt man das Unkorrekte und Schreckliche an der Sache." Es sind dies Gedichte, die „in ihrem Kalauerhaften, Schiefen der genaue Einspruch gegen falsches Gelingen" sind, so der Literaturwissenschaftler Jörg Drews. Eines davon, „In ein Stammbuch", sei hier stellvertretend zitiert: „LIEBLICH IST DES BUERGENSTOCKS GESICHT/LIEBLICH IST KRAFT IM SCHOENEN GEDICHT/LIEBLICH IST DIE WELT WENN SIE ZERBRICHT/UND DEM SCANGA IN SEIN ARSCHLOCH KRIECHT."

Abb.: Postkarten aus dem Archiv Sohm (Dieter Roth: „Die Haut der Welt")

Fünf Jahre nach seinem Tod erfährt Dieter Roth nun die Anerkennung, die ihm zweifellos gebührt. Dies bringt die Notwendigkeit mit sich, ihn jetzt auch gegen manche seiner neuen Liebhaber zu verteidigen.

Florian Neuner

> Dieter Roth: Die Haut der Welt. Walther König, Köln 2000. 34,80 Euro
www.dieter-roth-museum.de

 
 
 
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