Ausgabe 01 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Skatkloppende Sozialarbeiter, kiezverbundene Nachwuchstrinker

Eine Ex-Hausbesetzerkneipe im Charlottenburger „Problemkiez"

Eine Kneipe mit dem Namen ZUR LINDE gibt es in Westdeutschland wohl in jedem zweiten Kaff. Das gleichnamige Wirtshaus in der Charlottenburger Sophie-Charlotten-Straße, unweit des S-Bahnhofs Westend und der Stadtautobahn, ist aber nicht wirklich eine Dorfkneipe. Wenn man sich die comicartige Türbemalung mit einem scheißenden Köter und einem ebenfalls scheißenden K.O.B. sowie einem roten Stern über dem i ansieht, könnte man allerdings auf die Idee kommen, hier hätten ein paar langhaarige Aussteiger in den siebziger Jahren versucht, ein wenig heimische Dorfidylle in die ach so kalte Großstadt zu implantieren.

In Wirklichkeit eröffnete die Schenke erst 1981. Damals war das einst als roter Kiez verschriene Schloßviertel die Hochburg der Charlottenburger Hausbesetzerbewegung. Wenn man heute die Schankräume betritt, erwartet einen aber keine drogengeschwängerte Luft mehr, auch das alte seyfriedartige Wandgemälde, das die Gaststätte schon zehn Jahre nach ihrer Eröffnung wie ein Relikt aus einer untergegangenen Zeit erscheinen ließ, ist verschwunden. Stattdessen hat man die Wände sicherheitshalber gleich nikotingelb getüncht, und die übriggebliebenen Stammgäste sind zu Sozialarbeitern mutiert oder arbeiten im Geburtshaus am Klausener Platz.


Foto: Jörg Gruneberg

Erfreulicherweise sind die Alten nicht unter sich geblieben, sonst könnte man die Kneipe getrost in die Tonne treten. Die LINDE ist eine richtige Kiezkneipe geworden, in der sich alle Altersstufen betrinken ­ eine Mischung aus Alternativschuppen und Prollstampe. An einigen Tischen wird Skat gekloppt oder eines der vorrätigen Brettspiele gespielt. Die Bar wird von Frauen belagert, und hinter dem Tresen steht der jugendliche Nachwuchstrinker, der vermutlich noch nie das Viertel verlassen hat und seine Kiezverbundenheit mit einem T-Shirt bekundet, auf dem, nach dem Vorbild von Kreuzberg 36, „Charlottenburg 19" steht. Gemeinerweise vereinte dieser alte Postzustellbezirk das jüngst von der Polizei zum Problemkiez erklärte Schloßviertel mit dem benachbarten schnöseligen Neu-Westend auf der anderen Seite der Stadtautobahn.

Das kulinarische Angebot der LINDE ist jedoch kaum abgestimmt auf die edle Nachbarschaft. Zu essen gibt es Schmalzstullen und Bouletten für jeweils einen Euro oder gefüllte Weinblätter mit Knoblauchquark und Fladenbrot für 3,50 Euro, trinken kann man neben einer recht großen Auswahl an Weinen hauptsächlich Bier. Vom Faß ist Flensburger, Königs Pilsener oder Kölsch für 2,30 Euro den halben Liter im Angebot, und aus der Flasche gibt es über 20 Sorten Bier. Leider kann man sich auch mit Beck's Gold vergiften, immerhin wird dieses üble Gebräu hier mit einer Limettenscheibe, die in den Flaschenhals gequetscht wird, serviert, so daß der Verzehr wenigstens sabotiert wird.

Dirk Rudolph

 
 
 
Ausgabe 01 - 2004 © scheinschlag 2004