Ausgabe 01 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Freiraum oder Isolation?

In den Sackgassen der neuen Musik

Auch in Berlin sind die Konzerte mit neuer Musik – mit zeitgenössischer Musik also, die nicht improvisiert, als Tanzmusik, Kneipentapete oder zum Mitgrölen konzipiert ist – meist nur schwach besucht, und die wenigen rekrutieren sich zu einem Gutteil aus den üblichen Verdächtigen, den berufsmäßig mit dieser Art von Musik Befaßten. Bei Festivals füllen sich die Säle etwas besser, denn dann reisen auch die Kollegen aus Westdeutschland an. In den nach wie vor ganz gut subventionierten Freiräumen kennt jeder jeden, und die Vergabepraxis von Aufträgen und Preisen kann nur als Vetternwirtschaft beschrieben werden. Daß irgendetwas nicht stimmt, beginnt man jetzt langsam sogar innerhalb dieser Enklave zu bemerken.

Das von RBB und DeutschlandRadio ausgerichtete Festival mit dem unsinnigen Namen „UltraSchall" ist gerade zu Ende gegangen, die „MaerzMusik" der Berliner Festspiele folgt einige Wochen später. Beide treten nun die Flucht nach vorne an und gesellen den klassischen Konzerten allerlei Lounges und Crossover, Performatives und Multimedia ­ die dann ein eigenes Publikum anziehen, das sich mit dem engeren Neue-Musik-Publikum freilich nicht unbedingt vermengt. Christa Brüstle von der Berliner Gesellschaft für Neue Musik stellte auf einer UltraSchall-Diskussion denn auch folgerichtig die Frage, ob die „eher intellektuelle, traditionelle Musikvermittlung" heute noch adäquat sei. Wenn man das Hirn anspricht, kommen einfach weniger Leute.

„Neue Musik ist jetzt ein immunes System", schreibt in der aktuellen Ausgabe der neuen musikzeitung der Freiburger Komponist Claus-Steffen Mahnkopf, Teilnehmer an einer anderen Podiumsdiskussion des UltraSchall-Festivals. Von einer „Wagenburg-Mentalität" sprach dort auch Claus Spahn von der Zeit. Mahnkopf beklagte, daß die neue Musik keine Entsprechung im kulturellen Diskurs finde. Dabei würde doch so hochkomplex und faszinierend komponiert. Würden sich bloß Derrida oder Habermas für Musik interessieren, so Mahnkopfs Stoßseufzer, der sich im übrigen nicht entblödete, von einem „Fremdenhaß" gegen diesen Bereich zeitgenössischer Kultur zu sprechen. Selige Zeiten, als Adorno noch sein Steckenpferd in die größere Arena des philosophischen Diskurses trug!

In der kleinen Welt der neuen Musik indes sind Grundsatzdebatten nicht erwünscht. Mobilisieren lassen sich die Herren höchstens, wenn mal irgendwo Budgetkürzungen drohen ­ so geschehen, als vor einigen Jahren das renommierte Festival von Donaueschingen zur Disposition stand. Warum sich, wie Mahnkopf glaubt, Komponisten zum „11. September" äußern oder gar auf ihn reagieren sollten, leuchtet aber nun wirklich nicht ein, wenn man an den gesammelten Schwachsinn denkt, den Literaten und Publizisten zu diesem Thema abgesondert haben. Hier haben sich die Schweigenden doch eher als Philosophen erwiesen.

Zwischen all den Borniertheiten und verzweifelten Popularisierungsversuchen ist es fast beruhigend zu sehen, daß ein großartiges Stück wie Salvatore Sciarrinos zweistündiges Orchesterwerk Sui poemi concentrici, das am 18. Januar im Konzerthaus seine nach der Turiner Uraufführung von 1987 erst zweite Aufführung erlebte, aus sich heraus zu überzeugen vermag.

Peter Stirner

 
 
 
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