Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

scheinschlag Winter-Special: Teil 1

„Ein jeglicher in seine Stadt" – dieser Halbsatz der Weihnachtsgeschichte, dessen Wirkung sich auch die zornigsten Atheisten schwer entziehen können, gab den Anlaß für die diesjährigen scheinschlag-Winter-Special-Seiten. Für die meisten geht es Ende Dezember nach Hause, in den Schoß der Familie, den Höllenschlund der Kindheitserinnerungen, die ganze alte Gefühlskommode – zurück in die Heimat eben, die für die meisten Berliner nicht Berlin, sondern ein anderer Ort ist. Wir fragten einige scheinschlag-Autoren, was sie von ihren Herkunftsorten zu erzählen haben:

Pforte zum Schwarzwald

Schwarzwald, Pforzheim, die Pforte zum Schwarzwald, erinnert an Arbeiten. Nirgendwo je so viel gejobbt. Firma Behr Kühlanlagen, Arbeit mit Maschinenölgeruch. Bier aus einem Automaten. Den Akkord halten, Schutzmaske um die roten Ohren geschnallt, Funkenflug beim kreischenden Rohreschneiden. Ein Meister bestaunte meinen Bierkonsum. Im Hotel „Pforte zum Schwarzwald" mit goldener Pforte Arbeitsnomaden aus Portugal und dem Saarland. Bad reinigen in sieben Minuten, alle Bäder wie unberührt, alle krausen Härchen schwimmen im Eimer. Abends Biere stürzen. Küchenkacheln schrubben, Wäsche weiß waschen, heiß mangeln. Pakete packen bei Versandhaus Klingel. Ich sang „Heroes" in den Lärm hinein. Ich mochte das Tempo. Pakete aus dem Schwarzwald in alle Welt.

An die Stadt grenzen die Wälder. Ohne die Wälder würde es nicht gehen. Eine schwäbische Stadt, wie Berlin als Flächenstaat, undenkbar. Die schwäbische Stadt, ein Energieball, zwischen Berghänge gekeilt, in Abwehr gegen eine Übermacht schweigender Fichten. Dunkle grade Bäume beschatten totes Holz, feuchte Moose, vielleicht noch das kalte Herz. Im Winter ist es so still, daß ein Fremder erschrocken innehält. Unten im engen Tal rauscht die Enz, über die der Holländermichel seine Floße gen Norden trieb. Auch der wollte bloß schwitzen.

Tina Veihelmann

Foto: Steffen Schuhmann

Nech

Zu Lübeck fallen einigen dicke Bücher ein und anderen große Kirchen, einige denken an Marzipanschweine und andere an Hans Stimmann, dem die hübschen Altstadtgassen, hübschen Gartenhöfe, hübschen Bürgerhäuser unserer Heimatstadt so lieb und teuer sind, daß er sie auch in Berlin einführen möchte. Manch einer mag auch ans Meer oder an Marmelade denken, wenn von Lübeck die Rede ist, aber das ist natürlich Unsinn. Das Meer liegt hinter Travemünde, und die Marmelade kommt aus Schwartau, das mit Lübeck soviel gemein hat wie Pale mit Sarajewo, nur ohne Krieg.

Ich kenne Lübeck; mir fallen noch ganz andere Sachen dazu ein. Dennoch bin ich ab und zu dort, der Eltern wegen und auch wegen der stillen Gewässer der Umgebung, in denen man schwimmen oder paddeln kann. Wenn es dafür zu kalt ist, umrundet man sie bedächtig und führt Gespräche. Dabei werden die Sätze mit einem lakonischen „nech" beendet statt mit dem rüden „wa" der Berliner.

Wenn es noch etwas kälter wird, kann man die Seen auch begehen und den Fluß hinauflaufen, den früheren Grenzfluß, bis er zu schmal wird und so schnell fließt, daß sein Eis nicht mehr trägt. Schon ziemlich weit flußaufwärts sahen wir einmal den Bauch eines toten Wildschweins aus der Eisdecke ragen, westwärts, quasi republikflüchtig. Das arme Viech, eingebrochen, abgesoffen und wieder festgefroren. Mein Vater, der den Fluß kennt, wurde unruhig. Ein paar Meter weiter brach auch er ein, aber nur bis zur Brust, denn das Wasser war flach und seine Beine länger als die eines Wildschweins. Er wuchtete sich, immer wieder einbrechend, in Richtung Ufer. Als er hinaufstieg, sagte ich: „Mensch du." Er sagte: „Ja. Nech."

Johannes Touché

Foto: Steffen Schuhmann

76

76 ist die alte Postleitzahl von meinem Viertel in Hamburg und war und ist noch heute die gebräuchlichste Bezeichnung für diesen Teil der Stadt. Für viele ist diese Gegend auch schlicht namenlos. Einige bezeichnen sie wiederum gerne als Uhlenhorst, ein benachbarter Stadtteil mit Altbauwohnungen und schönen Hausfassaden. 76 ist nicht schön, obwohl weder Hochhäuser noch ähnliches die Gegend dominieren. Dafür dominiert der rote Klinker der vierstöckigen Häuser aus den fünfziger und sechziger Jahren. In Zeilenbauweise, ohne Hinterhöfe, massenweise. Ab und zu mal ein einzelner Altbau, den der Krieg oder der Abriß- und Neubauwahn der Nachkriegszeit verschont hat. 76, also weder Hamburger Noblesse noch Alster- oder gar Hafenromantik.

Dieses 76 ist die Stadt meiner Kindheit, wo ich mit Go-Cart und später mit Fahrrad um den Block gefahren bin, der Nachbar im ersten Stock an einer Fischvergiftung gestorben ist und ich mir um die Ecke bei der großen Straße saure Drops für einige Pfennig oder ein Franzbrötchen für die Schule gekauft habe. In meinen Träumen bin ich öfters in 76. Bin ich aber mal wieder in Hamburg, geht es mir wie wohl vielen alten 76ern. Man kann mich in St. Pauli oder in Altona oder in den anderen angesagten Vierteln treffen. In 76 bin ich die letzten zehn Jahre nur einmal sehr kurz gewesen. Dort war es nicht schöner geworden, nichts hatte sich verändert. Auch dieses Mal werde ich in Hamburg vorbeischauen, 76 aber wieder einmal links liegen lassen.

Dirk Hagen

Spandau bei Berlin

Aus Spandau zu kommen gilt ja als etwas Besonderes. Da ist zum einen die Tatsache, daß der Bezirk älter als Berlin ist und sich ohne die Spandauer Zitadelle statt einer Hauptstadt vielleicht nur ein verschlafenes brandenburgisches Fischerstädtchen entwickelt hätte. Was Spandau aber auch heutzutage von anderen Berliner Bezirken unterscheidet, wurde mir erst klar, als ich mehr in anderen Teilen der Stadt herumkam. Von seiner Infrastruktur her ist Spandau nämlich eine ziemlich komplette westdeutsche Kleinstadt – man könnte es von Berlin abtrennen und dreihundert Kilometer nach Westen versetzen, keinem Besucher würde es auffallen. Spandau hat eine historische Altstadt, die wie viele westdeutsche Altstädte längst zu einer Shoppingmeile mit Kino-Center mutiert ist. In seinen Altbauvierteln leben viele Migranten, ein paar Freaks und einige Rentner, während finanziell etwas bessergestellte Haushalte sich in den verschiedenen umliegenden Ein- und Mehrfamilienhaussiedlungen niedergelassen haben. Es gibt auch Neubauviertel mit Hochhäusern, aber die sind nicht so groß und ghettomäßig wie das Märkische Viertel oder Marzahn – in Spandau ist alles ein bißchen kleiner und grüner. Selbst Vororte hat Spandau zu bieten, so, wie es sich für eine Kleinstadt gehört. Wer das bezweifelt, möge vom Rathaus vorbei an Wald und Wiesen nach Kladow fahren, das einem schwäbischen Dörfchen ähnelt. Das prägt. Sehe ich aus dem S-Bahn-Fenster den Rathausturm nahen, dann bin ich nicht mehr in Berlin, sondern irgendwie ... daheim.

Thorsten Friedrich

Es sprießt mit dem ersten Pickel ...

Wir wollen stark Getränke schlürfen, um einer Stadt Aufmerksamkeit zu schenken, deren Erwähnung nur den Fremden ein frohlockendes „Oho" entlockt: Weimar. Diese Stadt war, und das wird gern verschwiegen, schon immer dem Jugendalkoholismus förderlich, denn wer den Nachmittag ertragen wollte, mußte sich bereits beim Frühschoppen zielstrebig bettreif trinken. Nachts ging man dann zum Küssen auf den Friedhof, welchem es bedauerlicherweise an gastronomischen Einrichtungen mangelte, was ebenso auf den Rest der Stadt zutraf. Die klassische Selbstversorgung wiederum schließt einen glasweisen Getränkeverzehr aus, so daß stets großzügig geplant werden mußte.

Selbst der Tourist fürchtete sich davor, in Weimar eine Nacht erleben zu müssen, er kam am Morgen, kroch durch sämtliche Gassen auf der Suche nach Geist und ging noch vor dem Abend. Wer in Weimar pubertieren mußte, wünschte sich immer gern mehr von einer Kraft, die Böses will, so viel Gutes wurde für einen gewollt. Wuchs man trotz zielstrebigen Gebrauchs der Droge Alkohol dennoch heran, steuerte man ohne Umwege auf eine sichere Karriere im „Waimor-Wärk" zu, Einführungskurse hatte es ja schon mit vierzehn gegeben. Aber eigentlich sprießt traditionsgemäß in einem echten Weimarer mit dem ersten Pickel auch die unumkehrbare Überzeugung: „Verweile nicht!"

Weimar ist die ewig Lächelnde, und es ist nicht nur Weimars geographischer Lage geschuldet, daß man, einst dem Kessel dieser Stadt entkommen, zunächst tief durchatmen muß. Um Weimar endlich ganz und gar seiner Bestimmung zuzuführen, sollten den Fremden nur nach Erwerb einer Eintrittskarte der Besuch der kleinen Stadt gewährt werden, die resistenten Bewohner jedoch Tag und Nacht zum fehlerfreien Aufsagen von Schillerzitaten genötigt werden dürfen.

Mila Zoufall

Fotos: Steffen Schuhmann

 
 
 
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