Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Der unsichtbare Alexanderplatz

Ein Hörstück in der Unsicht-Bar

Der große Lauschangriff ist vorbei, die 17. Hörspielwoche soeben erfolgreich über die akustische Bühne der Akademie der Künste gegangen. Für alle, die nicht genug bekommen können, gibt es aber auch weiterhin Hörenswertes: In der Unsicht-Bar werden nicht nur Menüs bei völliger Dunkelheit, sondern seit Anfang des Jahres auch Klänge auf einer sogenannten „Dunkelbühne" serviert: Musik, Hörfilme, Live-Hörkrimis oder Klangexperimente.

Daß sich im Dunkeln nicht nur gut munkeln, sondern auch hervorragend zuhören läßt, haben nun auch Susanne Sachsse und Holger Siemann erkannt: Für ihr Hörtheaterstück Berlin Alexanderplatz schicken sie den Zuschauer in die Dunkelheit und gleichzeitig auf eine Zeitreise in die zwanziger Jahre. Zwischen Vogelgezwitscher, Straßenbahnrattern und Schlagerfetzen entfalten die Stimmen von Sachsse und Siemann live und vom Band die Geschichte von Döblins Antihelden Franz Biberkopf auf seinem Weg zu einem „anständigen Leben". Die besondere Pointe: Die Schauplätze von Döblins Roman und der Standort der Unsicht-Bar fallen genau zusammen ­ mit dem Unterschied, daß man angesichts der derzeit in Mitte um sich greifenden Sanierungswut langsam immer mehr Phantasie braucht (oder eben die Dunkelheit der Unsicht-Bar), um sich den Kiez als zwielichtigen Kaschemmendschungel vorzustellen.

Das akustische Universum Berlin Alexanderplatz mit lediglich zwei Sprecherstimmen zu realisieren, ist ein gewagtes Unterfangen, das in einzelnen, sehr präzise durchgestalteten Szenen, in denen sich Stimmen und Klänge die Bälle gegenseitig zuspielen, reibungslos funktioniert. Über weite Strecken gewinnt man jedoch den Eindruck, daß in diesem Fall mehr tatsächlich auch einmal mehr gewesen wäre. Durch mehr Stimmen, noch mehr Klänge und eine radikalere Collagetechnik hätte man der polyphonen Struktur des Romans noch besser gerecht werden können. Zumal sich der reine Handlungsablauf auch in der vorliegenden Version wohl nur dem döblingeschulten Hörer problemlos erschließt; daher wäre es durchaus konsequent gewesen, noch stärker auf einzelne Situationen als auf die Gesamtgeschichte zu setzen.

Trotzdem sollte man sich die ungewohnte sinnliche Situation nicht entgehen lassen: Wo wird man so bald wieder die Gelegenheit bekommen, sich derart konzentriert auf Döblins opus magnum einzulassen und dabei in eine Welt der Geräusche und Gerüche einzutauchen? Wohl kaum an der Straßenbahnhaltestelle auf dem sichtbaren Alexanderplatz!

Teresa Schomburg

„Berlin-Alexanderplatz" noch bis zum 3. Januar immer samstags 20.30 Uhr in der Unsicht-Bar, Gormannstraße 14, Mitte, Karten 12 Euro, ermäßigt 9 Euro, fon 24344500, infos unter www.schreiberey.de

 
 
 
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