Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1903/1904

4. Dezember bis 28. Januar

Nur wenige Leute sind in der Neujahrsnacht Unter den Linden zu sehen, doch zeigt die Polizei ein großes Aufgebot. Überall glitzern die Pickelhauben, in den Seitenstraßen stehen kleine Armeen von Schutzleuten zu Fuß und zu Pferd. Obwohl es schon eine halbe Stunde vor Mitternacht ist, erscheint kein Publikum. Erst eine Viertelstunde später belebt sich die Szene mit ein paar hundert Personen, die neugierig die polizeiliche Veranstaltung betrachten. Fünf Minuten später sind Tausende auf dem Platz, aus allen Ecken und Enden gleich einem unerschöpflichen Strom flutet es nach den Linden. Ruhige Bürger sind dabei wie auch Elemente, denen man gern aus dem Wege geht, nur Damen sind in verschwindender Minderheit. Um 12 Uhr hat sich die Menge verzehnfacht, alle Fenster sind erleuchtet, schöne Frauen winken Grüße herab, wie Perlenschnüre gleißen die elektrischen Bogenlampen in dieser wundervollen, klaren Winternacht. Doch da bringen zwei Schutzleute schon einen Störenfried aus der dichten schwarzen Menschenmasse heraus. Er wird gefesselt und mit einer Patrouille zur nächsten Wache geleitet.

Der Taxameterstreit greift auch in die Neujahrsnacht hinüber. Im Leben des Droschkenkutschers spielt Silvester eine Rolle als Erntetag. Allein – in einem so großen Gemeindewesen wie Berlin fallen die paar hundert streikenden Kutscher nicht sehr ins Gewicht. Viele Fuhrherren, die seit Jahren nicht auf dem Bock gesessen haben, fahren in der diesmaligen Neujahrsnacht, um sich den Verdienst nicht entgehen zu lassen. Ein Droschkenmangel herrscht nirgends.

Immer ärger wird der Neujahrstrubel in der Friedrichstadt, die heiseren Kehlen wollen sich laben, ihre Inhaber fallen in die Bier- und Weinlokale ein. Es gehört zu den modernen Obliegenheiten eines Neujahrsenthusiasten, Freunden und Bekannten in der Morgenstunde telegraphisch Glück zu wünschen. Die Reichspost hat sich auf diese zeitgenössische Höflichkeit eingestellt und in den Fernsprechämtern in Berlin, Charlottenburg und Wilmersdorf das Personal in der Neujahrsnacht erheblich verstärkt.

Die Räume der Philharmonie haben sich schon lange vor Mitternacht zum Maskenball dicht gefüllt. Frack, Straßenanzug, Masken und schimmernde Toiletten wechseln miteinander ab, von den Estraden herab lassen vier Musikkorps Tanzweisen erklingen, während im Oberlichtsaal zum Silvester-Festessen kleine, hübsch dekorierte Tische gedeckt sind. Wenige Minuten vor Mitternacht verstummen die Kapellen, bei schmetternden Fanfaren der vereinigten vier Musikkorps wird das neue Jahr begrüßt, vieltausendstimmiges „Prost Neujahr" ertönt, und das lustige Völkchen flutet durch die Säle, die von zwei mächtigen Reflektoren in ständig wechselnden Farben magisch beleuchtet werden. Während draußen die Luft trocken und kalt ist, beginnt hier bei schwüler Temperatur ein dichtes Schneetreiben. Aus großen Trichtern wehen hoch oben von der Decke des Saales zarte Papierschneeflocken in großen Massen herab. Bei Sekt und wirbelndem Tanz vergehen die fröhlichen Stunden, bis das Frührot des Neujahrstages zum Aufbruch mahnt.

Einen Wilddieb nimmt die Polizei mit dem Arbeiter Wilhelm Krebs aus der Hagenauer Straße 6 fest. Er wird beim Einbruch in einen Kolonialwarenladen erwischt, und man findet bei ihm eine Anzahl Patronen und eine Vorladung vor das Amtsgericht in Prenzlau, vor dem er sich wegen Wilderns verantworten soll. Als man daraufhin seine Wohnung durchsucht, entdeckt man außer einem frisch geschossenen Reh auch alles, was ein gewerbsmäßiger Wilderer braucht, insbesondere eine kunstvoll gebaute zerlegbare Flinte.

Die Zervelatwurst der Halloren, die eine Abordnung von ihnen am Neujahrstag dem Kaiser überreicht, ist, wie schon seit langen Jahren, vom Hofschlächtermeister Ernst Halbe in Halle aus reinem Schweinefleisch in Rindsdärmen, und zwar in Pfundstücken, angefertigt. Im ganzen werden 80 Pfund Wurst überreicht.

Die Ohrfeige, die der Schlächtermeister Hähnel seinem Dienstmädchen versetzt hat, kann teuer werden. 28.000 Mark verlangt der Rechtsbeistand als Entschädigung, da seine Klientin infolge der Ohrfeige irrsinnig geworden sei und für die Zeit ihres Lebens Versorgung beanspruche. Wie die Allgemeine Fleischerzeitung berichtet, kommt die wegen der Forderung seitens des Dienstmädchens gegen die Konkursmasse angestrengte Klage am 5. Januar zur Verhandlung.

Falko Hennig

 
 
 
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