Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

HKAZ&GuG

„Ein Atom-U-Boot nach dem anderen geht unter. Die Meldungen darüber gehen auch schon unter! Ach, Menschenkind, und wir sitzen hier im neu eröffneten Szenerestaurant Titanic!" Ditte lehnt sich an die maritim gestreifte Brust ihres Freundes. Der U-Bootgeneral, der sein Atom-U-Boot entführt hat, um Gorbatschow zurückzuholen, 1991, als in Moskau geputscht wurde, hat ihnen damals imponiert.

„Unstillbares Heimweh ist ausgesprochenes Fernweh!" Ditte fröstelt. „Unstillbares Fernweh ist ausgesprochener Quatsch! Maßlosigkeit statt Ferne! Wo sich doch heute alles ins Maßlose steigert, das Mindeste im Superlativ erscheint, Marke: Die Arbeitslosenzahlen haben ihre höchste Steigerungsrate erreicht! Und das seltsame Auftauchen zahlreicher herrenlosester Koffer aller Zeiten (HKAZ) im letzten Quartal!" Menschenkind starrt ergriffen seinen eigenen Worten hinterher.

„Wo hast Du eigentlich den Koffer mit dem Weihnachtsmannkostüm stehen lassen? Komm, Menschenkind, erinnere Dich! Es hat doch immerhin 30 Euro gekostet!" Menschenkind massiert sich den Nacken, das macht er immer so, wenn er sich zu erinnern versucht. „Verdammt noch mal, der steht noch vor dem Bezirksamt Mitte. Ich dachte, Du wolltest ihn nehmen!" Ditte schüttelt sich. „Du hast kein Wort gesagt, nicht das mindeste von Nimm!" „Ach, Ditte, ich habe doch auch gesagt, ich habe gedacht, Du wolltest ihn nehmen!" „Bezahlen!" Sie vergessen sogar, dem studentischen Titanic-Aushilfskellner ein Trinkgeld zu geben. Wie der begossenste Pudel aller Zeiten steht er da und verwünscht das aufgescheuchte Paar, mindestens wünscht er ihnen alles Schlechte. „Das ist die beschissenste Schicht, die ich hier schiebe."

Zurück nach Mitte. Aber sie kommen nicht weit. Das Bezirksamt ist weiträumig abgesperrt. Angeblich wurde ein herrenloser Koffer gefunden. Sicherheitsbeamte mit geigerzählerähnlichen Apparaten umtanzen das corpus delicti. Die eine oder andere Hundertschaft hält sich in Bereitschaft, ein Spezial-Einsatz-Kommando (SEK) bezieht Position. Der HKAZ (herrenloseste Koffer aller Zeiten) kommt Ditte&Menschenkind ziemlich bekannt vor, verdächtig bekannt, aber sie wollen jetzt nichts, aber rein gar nichts mit ihm zu tun haben. Damit nicht. Denn träten sie nun beherzt für ihren Koffer ein, würden sie einer Personenkontrolle unterzogen werden, und es käme vielleicht heraus, daß sie Mohamed Atta kannten. Er war ihr Gemüsehändler, er hatte einen LADEN! Und außerdem würde man sie für den Großeinsatz wohl zur Kasse bitten, was nun wirklich dringlichst zu vermeiden sein sollte.

Am liebsten spränge Ditte in den Kreis und brüllte: „Rückt den Koffer raus!", aber derartig spontane Aktionen würden sie teuer zu stehen kommen. Also spielen sie unbeteiligte Beobachter. Obwohl ihnen mulmig dabei ist. Nanu, kommt da hinten nicht der berühmte Spürpanzer „Fuchs"? Auch das noch! So ein Fuchs findet manche Fährte! Zahlreiche Kinder werden auf Abstand gehalten. Sie drängen auf die ferngesteuerten Sprengstoffexperten hin, die ihren Kinderzimmer-Panzern zum Verwechseln ähnlich sind.

„Haut ab", ruft ein Sprengmeister den Kindern fröhlich zu, „das hier ist kein Kinderspiel und erst recht kein Spielplatz!" Eine Spezialistin für die Betreuung von Guckern und Gaffern (GuG) geht auf die Kinder zu und bietet ihnen Gummibärchen an. Jetzt wird es ernst: Die GuGs werden von jungen Polizeianwärterinnen auf Distanz gehalten. Menschenkind nimmt Ditte, die sich entsetzt abwendet, in den Arm. Sie murmelt: „Dreißig Euro!"

„Bitte räumen Sie das Operationsgebiet! Gehen Sie von der Straße! Lebensgefahr!" Es kracht! Ein fliegender Koffer! Wie eine expressionistische Blutlache verstreut sich ein wallendes Weihnachtsmannkostüm samt Bartfetzen und Lametta auf dem Pflaster. Weißes Pulver fliegt durch die Luft. Eines der auf Abstand gehaltenen Kinder weint laut auf und spuckt den Gummibär aus. „Sie haben den Weihnachtsmann umgebracht!" Es weint echte Tränen. „Das waren doch bloß die Sachen von ihm, der Weihnachtsmann lebt!" Das Kind schüttelt Ditte ab. „Du glaubst wohl noch an Märchen, oder wie?!"

Brigitte Struzyk/ Dieter Kerschek

 
 
 
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