Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Antikes Drama im Alpenvorland

Der Heimatfilm Hierankl

Heimatfilme haben auf deutschen Kinoleinwänden gerade Hochkonjunktur. Insbesondere, wenn die Handlung in den achtziger Jahren angesiedelt ist und die Kinobetreiber mit einer gewissen Anzahl an nostalgischen Zuschauern rechnen können. Wie aber verkauft man dem geneigten Kinobesucher einen Film, der gleichzeitig Heimatfilm, Tragödie und Krimi ist? Hierankl ist das Regiedebüt von Hans Steinbichler, der dafür den Preis für die beste Nachwuchsregie beim Münchner Filmfest eingeheimst hat.

Die Geschichte ist einfach nacherzählt. Zum 60. Geburtstag des Vaters soll sich die ganze Familie in Hierankl, einem abgelegenen Gehöft in den Voralpen, zum Feiern versammeln. Als die Tochter Lene im Zug beobachtet, wie ihr Vater sich innig von einer Frau verabschiedet, die nicht ihre Mutter ist, weiß man, daß diese Familie keine mehr ist und nur noch die Fassade gewahrt wird.

Auch auf der Alm ist viel Sünd'. Da hat die Mutter mit dem besten Freund ihres Sohnes ein Verhältnis. Der Sohn Paul wiederum hegt eine allzu große Zuneigung zur Schwester Lene. Nur der Hund scheint „normal" zu sein. Zur Feier will man aber Burgfrieden schließen, was erwartungsgemäß nicht klappt. Dann taucht überraschend noch ein alter Freund des Vaters auf und wird ungewollt zum Katalysator einer Entwicklung, die all das ans Licht bringt, was lange Zeit totgeschwiegen wurde. In dieser Familie wird geplänkelt und nicht geredet. Worüber man nicht redet, das gibt es nicht: alte Wunden aus der Kindheit, Betrug und Verrat. In diesen drei Tagen wird noch einiges hinzukommen, unbewußter Inzest inklusive.

Was in der Kurzfassung eher wie ein gefundenes Fressen für Seifenopernproduzenten wirkt, entwickelt sich hier zum Drama fast antiken Ausmaßes. Drei Tage werden erzählt, gleichsam in drei Akten. Wie in einem klassischen Drama braut sich das Unwetter an den ersten beiden Tagen zusammen, um pünktlich zum Fest sich zu entladen. Da wird alles auf den Tisch gepackt und herausgeschrien. Damit man danach wieder schweigen kann.

Regisseur Steinbichler kennt sich mit der Materie aus, denn er ist in dieser Gegend aufgewachsen. Man spricht wenig miteinander und trägt kaum Konflikte aus. Stattdessen wird gebeichtet und gebüßt. Insofern ist Hierankl ein echter Heimatfilm geworden. Der liebende oder verklärende Blick dieses Genres fehlt jedoch völlig. In Hierankls Mikrokosmos wird eine Familie seziert und nur notdürftig wieder zusammengebastelt. Daß der Plot bei diesem starken Tobak nicht ins Peinliche rutscht, ist nicht zuletzt das Verdienst des wunderbaren Schauspielerensembles, allen voran Johanna Wokalek als Lene, die so irrsinnig verzweifelt sein kann, daß es fast schmerzt. Josef Bierbichler und Barbara Sukowa, die schon lange nicht mehr im Kino zu sehen war, brillieren als Eltern in diesem Alpenkammerspiel.

Die Anlehnung Steinbichlers an französische Autorenfilmer ist ganz deutlich und wirkt fast wie ein Jungbrunnen für den ansonsten eher desinteressierten jungen deutschen Film: Der Mann will dem Zuschauer wirklich etwas erzählen. Am Ende deckt der Schnee alles wieder unschuldsweiß zu. Äußerlich herrscht Ruhe. Aber manchmal ist Reden eben doch Gold.

Ingrid Beerbaum

 
 
 
Ausgabe 09 - 2003 © scheinschlag 2003