Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kurzkultur

ablagerung

Der Fotograf Harald Hauswald betätigt sich seit über 25 Jahren sozusagen als Alltagschronist der ostdeutschen (respektive Ost-Berliner) Gesellschaft. Seine Bilder dokumentieren die Zeit vor wie nach dem Fall der Mauer: Schnappschüsse von FDJ-Großveranstaltungen, die die Leere der Inszenierung entlarven, oder Fotos aus der schönen, neuen Warenwelt, vom Wechsel der Symbole und Slogans, wie auch Porträts von Bohèmiens, Hooligans, Straßenkindern, einfachen Leuten ­ sehr intim, jedoch immer die Würde der Porträtierten wahrend. Die besten seiner Fotos offenbaren mithin das wahre Leben im falschen. Neue und zum großen Teil unveröffentlichte Arbeiten sind derzeit in einer Ausstellung zu besichtigen, u.a. auch einige aus dem demnächst erscheinenden, der Ausstellung ihren Namen gebenden Buch Ost-Berlin, die andere Zeit einer Stadt.

* Die Fotoausstellung „Ost-Berlin, die andere Zeit einer Stadt" von Harald Hauswald ist noch bis zum 17. November in der Galerie F92, Fehrbelliner Str. 92, Mitte, Mi bis Sa 15 bis 19 Uhr zu sehen.

verzuckerung

Ocker kommen aus Hamburg und klingen wie eine Mischung aus Jean-Michel Jarre, Depeche Mode und Air. Ocker entwerfen Instrumental-Cinemascope-Landschaften, deutsche Vocodersmashhits und melancholisch-warmen Pop. Dazu passen Teaser aus Berlin ganz gut: Drei Männer mit drei Gitarren und Laptop. Teaser spielen traurige Popsongs. Ein Abend, der wie ein verträumtes Blättern im digitalen Fotoalbum mit verblaßten Farben und frischen Pixeln wirken dürfte.

* Ocker und Teaser am 28. November um 21 Uhr in der Kopierbar, Rosenthaler Str. 71, Mitte, Eintritt 6 Euro

erzitterung

Der Pianist Stefan Litwin zählt zu den raren Interpreten, die auch theoretisch etwas über Musik zu sagen haben. In einer neuen Reihe von Gesprächskonzerten geht es um das Thema „Traum ­ Hoffnung ­ Wirklichkeit". Für den ersten Abend ist ein Ausflug in die Konventionen der Schubert-Interpretation angekündigt.

*„'Will dich im Traum nicht stören, wär schad um deine Ruh...'. Zur Schubert-Interpretation und ihren Konventionen", Gesprächskonzert mit Stefan Litwin, am 22. November um 20 Uhr im Musikclub im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, Mitte, Eintritt 12 Euro

entblätterung

Hat Helmut Kohl Marilyn Monroe geküßt? Diese und andere, bedeutendere Fragen ­ wie die nach dem tatsächlichen Lebensalltag im Irak vor, während und nach dem Krieg ­ sind angesichts der heutigen Manipulationsmöglichkeiten bewegter und unbewegter Bilder nicht mehr zu beantworten. Die Ausstellung Bilder, die lügen veranschaulicht nicht nur, wie erschreckend perfekt die Bildmanipulationstechniken inzwischen sind, sondern gibt auch einen Überblick über mehrere tausend Jahre medialer Meinungslenkung und liefert Denkanstöße zu den Auswirkungen in der Informationsgesellschaft. Nach dem Besuch dieser Ausstellung wird man einen Satz wie „Ich glaube nur, was ich sehe" nicht mehr ernst nehmen können.

* „Bilder, die lügen", noch bis zum 26. Januar im Deutschen Historischen Museum (Pei-Bau), Hinter dem Gießhaus 3, Mitte, täglich von 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei

ermunterung

Ein Skandal erschüttert die österreichische Filmwelt: Die rechtsgerichtete Regierung in Wien hat die Leitung des politisch unliebsamen Grazer Diagonale-Festivals abberufen und der auf den österreichischen Film konzentrierten Veranstaltung eine neue Ausrichtung verpaßt. Führende österreichische Filmemacher wie Michael Haneke und Ulrich Seidl wollen die neue Diagonale boykottieren. Das Kellerkino Arsensal zeigt sich auch solidarisch und hat Constantin Wulff, einen der abberufenen Diagonale-Leiter, mit der Zusammenstellung eines österreichischen Filmprogramms für Berlin beauftragt. Zu sehen ist eine große Bandbreite von den neusten Filmen von Haneke und Seidl bis hin zu Arbeiten von Peter Tscherkassky und Dietmar Brehm, die ein Fortleben von hierzulande marginalisierten Avantgarde-Traditionen dokumentieren.

* „Diagonalen – Kino zur Gegenwart aus Österreich", vom 14. bis zum 29. November im Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, Tiergarten, www.fdk-berlin.de

abmauerung

Schön blöd, daß die Mauer so schnell und so vollständig beseitigt werden mußte! Die touristischen Berlin-Vermarkter könnten sich in den Arsch beißen, ist die inexistente Mauer doch auch noch 14 Jahre nach ihrem „Fall" eine der Hauptattraktionen. Auf den Mauer-Vermarktungszug versucht nun der Berliner Künstler Horst Walter aufzuspringen ­ mit einem sogenannten Mauerspecht-Museum in der Rheinsberger Straße. Zu sehen sind in dem neuen Museum aber keine Vögel, sondern „postrevolutionäre Brandenburger Tore", „Revolutions- und Wiedervereinigungsbilder", sowie „Gemälde von Mauerspechtserien" ­ was immer das sein mag.

* Das „Erste Berliner Mauerspecht-Museum" in der Rheinsberger Straße 48, Mitte, eröffnet am 9. November um 16 Uhr.

verweigerung

„Wir werben dafür, die Verweigerung von Kommerz und Spekulation der Bürger der neuen Bundesländer zu erweitern." Kein unsympathischer Ansatz. Fragt sich bloß, ob von so einer breiten Verweigerung, an die subversiv-agitierend angeknüpft werden könnte, überhaupt die Rede sein kann. Adam Page und Eva Hertzsch meinen das jedenfalls. Mit ihrer Installation „Die Kampagne" persiflieren sie Werbestrategien und interpretieren die von ihnen bei DDR-Bürgern konstatierte Improvisations- und Recycling-Mentalität als „nachhaltiges Handlungsmodell".

* „Die Kampagne" von Adam Page und Eva Hertzsch, noch bis zum 23. November in der Plattform in der Chaussestr. 110, Mitte, Mi bis Fr 14 bis 19 Uhr

ausmusterung

Die Moderne steht nicht hoch im Kurs. Während Berlin mit postmoderner Dutzendware verschandelt wird, droht vielen architektonisch eindrucksvollen Bauten der Abriß. Auf bemerkenswerte Architektur der siebziger Jahre weist nun eine Ausstellung des Fotografen Marcus Höhn hin. Er widmet sich Westberliner Baudenkmälern, unter ihnen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und der Steglitzer Bierpinsel ­ kein Retro-Chic, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit einer von „Kulturoptimismus" geprägten Zeit.

* „futur eins" von Marcus Höhn, noch bis zum 2. Dezember in der Galerie framework, Schlesische Str. 28, Kreuzberg, Mo bis Fr 10 bis 18 Uhr, Sa 12 bis 18 Uhr

 
 
 
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