Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1899-1903

2. Oktober bis 5. November

Aus den Erinnerungen des Verlegers Reinhard Piper

1899: Georg Müller war gebürtig aus Mainz und Sohn eines Ledergroßhändlers. Er war zwei bis drei Jahre älter als ich, hatte gleich mir – aber ein paar Jahre früher – in München seine Lehrzeit durchgemacht, bei Lentner in der Dienerstraße, und kam jetzt von Wilhelm Frick in Wien, einer der größten Buchhandlungen des Kontinents. Er trug die dunkelblonden Haare lang nach hinten gestrichen, so daß sie in Löckchen auf dem Rockkragen endeten. Diese Haartracht gab ihm etwas ausgesprochen Sanftes und Jünglinghaftes. Sein Gang war tänzelnd, und beim Sprechen hatte er ein wenig einen „Kloß im Mund". Sein Erscheinen bei Weber war für mich sehr erfreulich. Nun hatte ich einen wirklichen Kollegen! Ich merkte bald, daß er sich gleich mir ernsthaft für Literatur, Kunst und Musik interessierte, was bei den andern doch nur sehr nebenbei der Fall war. Er kannte sogar die Gedichte der Arno Holz-Schule und sagte zu mir: „Ein Buchhändler ist auch drunter." Welcher Moment für mich, als ich ihm enthüllen konnte, daß ich dieser Buchhändler sei!

Wir waren beide auch Bücherkäufer. Ich hatte mir hie und da einen Band der Velhagenschen Monographien angeschafft über einen Künstler, der mich besonders interessierte. Diese Bände waren damals ungefähr die einzigen Bücher über Kunst, die es gab. Wie erstaunte ich, als mir Müller erzählte, daß er alle diese Monographien ohne Ausnahme besitze und auch auf alle künftigen Bände subskribiert sei. Ich wollte das zuerst kaum glauben, denn wie konnte man sich mit so ganz verschiedenartigen Künstlern befassen wie etwa Giotte und Grützner, Donatello und Defregger.

Müller schwärmte für Wagner, mit dem ich mich noch nicht recht eingelassen hatte. Ich hatte nur den „Lohengrin" gehört. Er meinte, ich müsse vor allem das „Siegfried-Idyll" spielen. Wir kauften es in einer der nächsten Mittagspausen bei Bote & Bock in der Leipziger Straße, dazu ein Wagner-Album, und Müller dedizierte mir obendrein das „Albumblatt". Wir besuchten uns gegenseitig abends auf unsern möblierten Zimmern. Schließlich wurde daraus ein regelmäßiger Musikabend bei mir. Müller hatte eine hübsche Stimme, er sang zu meiner Begleitung zum Beispiel aus dem Lohengrin „Atmest du nicht mit mir die süßen Lüfte?" Es wurde immer sehr spät, bis wir uns trennten.

1903: Ich wohnte diesmal bei meinem alten Freunde aus der Weber-Zeit, Erich Lilie, in der Flottwellstraße mit Aussicht auf die vielen Geleise der Potsdamer Bahn. Mit ihm ging ich zu Weber. Der „Kleene" hatte sich wieder verlobt, wir gratulierten ihm, aber es gab da sonst, außer dem „ollen Schubert", kein bekanntes Gesicht mehr.

Diesmal war auch Richard Winckel, mein freundlicher Pariser Mentor, in Berlin. Er lithographierte mich, wie ich in der Ecke seines „Kanapees ohne Beine" saß, von dem er mir schon in Paris erzählt hatte. Auch ging er gegen Abend, die Gitarre umgehängt, mit mir den Kurfürstendamm entlang. Als er in einen Baum stieg und aus dem Gezweige heraus mit seiner hellen Tenorstimme ein Chanson sang, sammelten sich unten die Berliner und starrten, teils befremdet, teils belustigt, hinauf.

Auch Ernst Neumann mit Frau traf ich dort. Er hatte für das Gastspiel der berühmten australischen Tänzerin Saharet ein großes farbiges Plakat gemacht. An allen Plakatsäulen schwang sie nun ihr Bein senkrecht in die Höhe. Sein erster Schritt zur Eroberung Berlins war getan.

Holz war zunächst noch in Tirol und kam in den ersten Oktobertragen zurück. Er hatte dort wieder mit seinem Jugendfreund Oskar Jerschke an einem Drama gearbeitet. Wenn mit meiner Verlagsgründung alles gut ablief, wollte er mir auch dies anvertrauen. Es war, wie sich später herausstellte, der „Traumulus", der einzige große Publikumserfolg seines Lebens.

In Berlin erhielt ich von Georg Müller die Nachricht, er habe nun für seinen Verlag ein Lokal gemietet, ich möchte doch möglichst schon vor dem Fünzehnten kommen, es gäbe alle Hände voll zu tun.

So begann denn meine dritte Münchner Periode, die von da an bis heute dauert.

Auszug aus: Reinhard Piper: Mein Leben als Verleger
Abdruck mit freundlicher Genehmigung Piper
Verlag GmbH 1964, gefunden von Falko Hennig

 
 
 
Ausgabe 09 - 2003 © scheinschlag 2003