Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Bildung statt Beule

„Warthe 60", ein neues Jugendprojekt in Neukölln

Der Weg von der belebten Hermannstraße in die Warthestraße führt an einem Berufsbekleidungsgeschäft vorbei, „nach 34 Jahren schließen wir nun". Verrammelte Läden, die Suchtberatung, gegenüber bei Friseur Samir ein Kunde, die obligatorische Kneipe („Institut für Bierologie – Seminare täglich"). Die Linden auf dem Mittelstreifen verlieren ihre Blätter. Je weiter man hineinspaziert, umso ruhiger und bürgerlicher wird die Atmosphäre. Fast wie in Schöneberg.

Wer hier eine der großen Wohnungen bezieht, hat häufig auch Termine mit dem Sozialamt. Bosnier, libanesische Palästinenser, Sinti, Deutsche. Viele mit Flüchtlingsstatus auf Duldung zwischen allen Stühlen und mit vielen Kindern. Ungeklärte Zukunft, Armut, Arbeitslosigkeit und Gewalt, „ein Gebiet mit sozialer Schieflage" nennen das Politiker, „ein bevorzugter Abhängekiez von Jugendlichen" Sozialarbeiter. Angebote gab es bisher mit dem Kinderclub für die Jüngeren und dem „Outreach" für alle ab 17. Jugendliche im Alter von 12 bis 16 fielen durch das Netz. Und dies, obwohl sie oft an einer Schwelle stehen: Schulabschluß schaffen oder nicht, weiter Mist machen oder nicht. Einige von ihnen sind bereits aufgefallen, mit Schule schwänzen, als Sprayer („Sachbeschädigung"), als Abzieher („Diebstahl") oder als harte Jungs („Körperverletzung"), einige auch gar nicht.

Etwa hundert Jugendliche hat „Warthe 60" im Visier. Institutionell kooperieren der Evangelische Kirchenkreis Neukölln, das Diakonische Werk und das Bezirksamt Neukölln. Insgesamt konnten fünf Mitarbeiter angestellt werden. Die drei Zimmer der Erdgeschoßwohnung bilden den sehnlichst gewünschten „kontrollierten Freiraum", was in diesem Fall heißt, daß die „Warthe 60" ihre Tür für offene Jugendarbeit mit Schulaufgabenhilfe, Theatergruppen, Mädchentag usw. öffnet. Da kann jeder kommen, der will.

Als Kern der Arbeit sind allerdings feste Gruppen zur Gewaltprävention geplant. In ihnen sollen solche acht bis zwölf Jugendliche zusammengefaßt betreut werden, die von den Maßnahmen des Jugendamtes wie der Einzelfallhilfe nicht erreicht wurden. „Jetzt haben wir sie durch die offene Arbeit bei uns und können sie direkt für die gewaltpräventive Gruppenarbeit interessieren", erklärt Christine Burmeister von der Jugendhilfestation des Diakonischen Werkes und pädagogische Leiterin des Projekts. Statt Sanktionen Angebote, wie etwa Gruppentraining und Einzelgespräche, sei die Devise. Die einfachsten Regeln des täglichen Lebens seien den Jugendlichen manchmal unbekannt oder würden ignoriert.

Gerade Jugendliche aus Migrantenfamilien haben nach Aussagen von Fachleuten Schwierigkeiten, die Normen der neuen Gesellschaft zu erkennen. Den Spagat aus dieser Unsicherheit, massiver sozialer Benachteiligung und einem positiven Lebensentwurf zu leisten, überfordert naturgemäß und schlägt sich dann nur zu schnell in der Polizeistatistik nieder. Gelassenheit ist da gefragt, die nun beim Aikido geübt werden kann, genauso wie Defensivtechnik. Trainiert wird außerdem in Rollenspielen und Diskussionen, wie man seine eigenen Gefühle wahrnimmt, Konflikte analysiert, Probleme löst und mit seinem Frust umgeht.

Damit aber nicht genug. Mit einem Training in Mediation hat man sich noch etwas ganz besonderes ausgedacht: eine außerschulische Weiterbildung, möglich auch als Alternative zum Schulverweis. Die Ausbildung zu Vermittlern bei Konflikten wurde bisher erfolgreich bei Erwachsenen eingesetzt. „Jugendliche in diesem Alter in Mediation zu trainieren, ist neu", sagt Sozan Azad, die die Gruppe leitet. „Am Anfang schließen wir mit dem Jugendlichen eine Vereinbarung über Regeln, die dann verbindlich sind." Es folgen fünfzig Übungsstunden in alternativen Konfliktlösungsstrategien, Deeskalation, Wahrnehmung von Emotionen und Interessen, bis die Teilnehmer dann ein Zertifikat in den Händen halten. „Aach, die werden richtig Gänsehaut kriegen, wenn die dann vor den Leuten zum Konfliktvermittler ernannt werden. Die Erwachsenen hatten das ja auch", meint Azad. Im Frühjahr 2005 wird festzustellen sein, ob das Projekt geholfen hat, Jugendkriminalität zu verringern.

Katja Brinkmann

 
 
 
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