Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Es handelt sich um Geisterbeschwörung

Der Fotograf Schuldt forscht in China

Die Gestalten sind seltsame Zwitterwesen. Auf den ersten Blick haben sie vertraute, europäische Gesichter, erst auf den zweiten Blick stellt sich Irritation ein. Irgendetwas stimmt nicht. Es handelt sich um Schaufensterpuppen, die der vielseitige Autor und Künstler Schuldt, der sich jetzt mit der Fotografie ein neues Medium erschlossen hat, in der chinesischen Provinz aufgenommen hat. In einem Galerieraum in der Oranienburger Straße waren diese überlebensgroßen Portraits kürzlich einige Tage lang zu sehen.

In China, so Schuldt, müsse man sich sehr beeilen, die Entwicklungen verliefen sehr schnell. Die Figuren, die er in Sichuan fotografiert habe, seien etwa zwölf Jahre alt und jetzt schon wieder „im Abmarsch". Auf sie folgt eine Generation von Schaufensterpuppen, die sich von denen, die uns aus westlichen Kaufhäusern vertraut sind, nicht mehr unterscheiden läßt. Die alten Puppen aus der Provinz aber, Identifikationsangebote für Bauersfrauen, sind Ausdruck einer eigenartigen Mimikry an westliche Ästhetik, die keine vollständige ist, ambivalent bleibt ­ Signum einer krisenhaften Übergangssituation. „Es handelt sich um Geisterbeschwörung", schreibt Schuldt im Dayi Express, einer anläßlich dieses Fotoprojekts erschienenen Zeitung, „man gestaltet sich äußerlich wie die westlichen Teufel, als Abwehrzauber gegen diese."

Die (weiblichen) Gestalten sind noch in einer anderen Hinsicht ambivalent: Sie haben leuchtend rote Lippen, ausdrucksvolle Augen, etwas von unseren westlichen Puppen unvertraut Lebendiges. Schuldt spricht von einem Verschwimmen von Leben und Unechtem, von einer „menschlichen Wahrheit", die in diesen Figuren zum Ausdruck komme. Sie tragen aber auch Male der Beschädigung, nun, gegen Ende ihrer Karriere, die auf den hinter Plexiglas glänzenden Fotos eine große Wirkung entfalten.

Mit China beschäftigt Schuldt sich schon länger. Das Interesse des polyglotten Künstlers war zunächst ein sprachliches. In einem chinesisch-englischen Wörterbuch faszinierten ihn die ungewöhnlich „poetischen" Erklärungen der chinesischen Begriffe. Aus diesem Material erarbeitete er das Buch Leben und Sterben in China (1983). Das war noch vor seinem ersten China-Besuch. Heute hält er sich regelmäßig in Dayi, in der Provinz Sichuan, auf, um sich China dort zu nähern, „wo die Straßen enden". Die Metropolen seien doch sowieso nur Abziehbilder ihrer westlichen Vorbilder, „bloß etwas schmutziger". In der Provinz sei es aber noch möglich, einen Zipfel vom alten China zu erhaschen, das im übrigen bereits völlig untergegangen sei.

Der Dayi Express versammelt um das Fotoprojekt Texte u.a. von Schuldt selbst, von Hanns Zischler und Wolfgang Kubin, dem bekannten Bonner Sinologen. Mitgeliefert werden außerdem bio- und bibliographische Daten, die dazu einladen, sich auch mit anderen Arbeiten dieses wichtigen, am Rande des Betriebs agierenden Künstlers zu beschäftigen.

Florian Neuner

> Der „Dayi Express" soll demnächst zum Preis von 4,80 Euro u.a. im Hamburger Bahnhof, im Gropius-Bau und in der autorenbuchhandlung, Carmerstr. 10, Charlottenburg, erhältlich sein.

> In der Berlin-Moskau-Ausstellung im Gropius-Bau ist Schuldt mit der Arbeit „Cube Puzzle" (1965-81) vertreten

 
 
 
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