Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Ganz reale Alltagsängste

Die Luisenstadt in den Klauen der Obdachlosen?

Zwei Kinder spielen friedlich in einem Sandkasten, als eine finstere Gestalt um die Ecke wankt und unflätige Worte in den verlausten Bart lallt. In kurzen Abständen zieht der Mann eine Flasche aus den Fetzen, die um seine Schultern hängen, und stürzt den Inhalt wie besinnungslos hinunter. Rülpsend geht er auf den Sandkasten zu und läßt sich wie ein nasser Sack hineinfallen. Die Kinder beginnen zu weinen. Eines ist klar: Der Sandkasten muß sofort desinfiziert und die Kinder zur Therapie geschickt werden.

Für viele Anwohnerinnen und Anwohner der Luisenstadt ist dieses Szenario mittlerweile Bestandteil ihrer ganz realen alltäglichen Ängste: Weil die Anschutz-Investorengruppe das Gelände auf dem ehemaligen Ostgüterbahnhof mit einer Multifunktionsarena bebauen will, muß das Obdachlosenheim aus der Mühlenstraße in Friedrichshain ausziehen und sich, wie viele benachbarte Einrichtungen auch, eine neue Bleibe suchen.

Nach eingehender Prüfung verschiedener Standorte hat der Bezirk dem freien Träger der Obdachloseneinrichtung, der Siefos GmbH, das Haus Legiendamm 30a, Ecke Waldemarstraße verkauft. Nun sollen in dem Heim, das sich als eine Pflegeinrichtung versteht, 143 Obdachlose hausen, darunter auch Krebskranke und Behinderte ­ eine Katastrophe für den Kiez, wie die im August gegründete „Initiative Engelbecken" findet. Sie will rechtliche Schritte gegen das Vorhaben einleiten. Nicht nur, daß das soziale Gefüge im Kiez durcheinander geraten würde, weil kranke Menschen in Kontakt mit den Anwohnern kommen und mit ihren Gebrechen und Alkoholexzessen die Allgemeinheit schockieren und nachhaltig traumatisieren könnten. Man befürchtet auch einen Rückgang der Investitionen im Gebiet. Investoren und Architekten sind in der Initiative Engelbecken zahlreich vertreten und prognostizieren, daß eine Vermarktung und Bebauung von Grundstücken durch die Ansiedlung eines Obdachlosenheims fast unmöglich werden würde.

Die Initiative, für deren Gebaren sich andere Anwohnerinnen und Anwohner in Grund und Boden schämen, erhält Unterstützung durch den Bürgerverein Luisenstadt e.V. aus Mitte. Ähnlich wie im Fall der Drogenkonsumräume, die in Kreuzberg und Moabit für Unruhe sorgen und immer wieder vor der falschen Haustür landen, hat man dort zwar nichts gegen karitative Einrichtungen an sich. Das Problem ist der Standort, den man lieber außerhalb von Wohngebieten wissen möchte, weil dort die Obdachlosen eine „schönere Umgebung" genießen können.

Leider zerbrechen soziale Gefüge gerade auf diesem Wege. Ein Platz in der Mitte der Gesellschaft, wo die vorhandene Not nicht versteckt und verdrängt wird, wäre darum wohl die bessere Lösung. Sichtbar in der Mitte der Gesellschaft? Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, Fixerstuben oder Obdachloseneinrichtungen auf einer unbewohnten Insel in der Spree anzusiedeln. Der Standort wäre mitten in der Stadt und für alle einsehbar. Gleichzeitig gäbe es keine Sandkästen mit weinenden und therapiebedürftigen Kindern ...

Sonja Fahrenhorst

 
 
 
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