Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Schienen für den Autoverkehr

Ein kritischer Blick auf den Straßenbahnausbau

Dreizehn Jahre nach der Vereinigung Berlins erreicht eine zweite Straßenbahnlinie Westterritorium. Bis 2004 soll die Linie 20 vom Mauerpark über den U-Bahnhof Bernauer Straße zum Nordbahnhof und später zum Lehrter Bahnhof, dem künftigen Hauptbahnhof, verlängert werden. Freunde des öffentlichen Nahverkehrs könnten sich eigentlich freuen. Doch so einfach ist die Sache nicht.

Zur Erinnerung: Im Frühling dieses Jahres stoppte Stadtentwicklungssenator Peter Strieder den von BVG und Fahrgastverbänden einhellig favorisierten Anschluß der Straßenbahnlinie 1 an den Alexanderplatz, obwohl die Bauarbeiten schon begonnen hatten. Stattdessen erklärte er die Verlängerung der Linie 20 zur obersten Priorität.

Zweifelsohne braucht der künftige Hauptbahnhof einen Tram-Anschluß, denn nachdem erst der S-Bahn- und dann auch der U-Bahnanschluß verschoben wurde, steht er ziemlich verloren da. Doch bei der Linie 20 wird zunächst lediglich ­ parallel zur Linie 50 ­ die Eberswalder Straße mit dem Nordbahnhof verbunden, eine Strecke, für die ein Verkehrsgutachten keine ausreichende Auslastung attestiert. Den Lehrter Bahnhof könnte man einfacher durch die Invalidenstraße an das bestehende Schienennetz anschließen. Doch diese Variante zu erörtern hatte der Senator seinen Planern nicht erlaubt.

Warum hat also Strieder, der sich bisher wenig als Freund der Straßenbahn hervorgetan hat, auf einmal solches Interesse an einer nachrangigen Strecke? Die Antwort: Es geht um den Innenstadtring. Diese Planung der neunziger Jahre sah einen durchgehenden vier- bis sechsspurigen Autoring durch die Innenstadtbezirke vor. Inzwischen fehlt nur noch eine Verbindung zwischen der Danziger Straße und dem nördlichen Ende des Tiergartentunnels: die Bernauer Straße. Wenn man sich die aktuellen Baupläne ansieht, entsteht der Eindruck, daß hier der autogerechte Ausbau durch die Straßenbahn bezahlt werden soll.

Derzeit ist die Bernauer Straße eine grob gepflasterte Piste ohne Fahrbahnmarkierungen; teilweise wirkt sie geradezu idyllisch ruhig. Das wird sich nun ändern. Zwar will man ­ entgegen früheren Absichten ­ nicht mehr den ganzen angrenzenden Mauerstreifen opfern. Die Planung geht von einer fünfspurigen Asphaltstraße aus, die meist in der bestehenden Breite untergebracht wird. Eine eigene Straßenbahntrasse ist allerdings nicht vorgesehen. Stattdessen sollen die Schienen im Asphalt liegen und die Bahn sich geduldig in die vorhersehbaren Staus des zukünftigen Innenstadtrings einreihen. Da ein Schotterbett fehlt, müssen die Anwohner mit weit mehr Lärm leben: ein Gutachten rechnet mit einer deutlichen Überschreitung der zulässigen gesetzlichen Grenzwerte.

Auch für die Haltestellen wird kein Zentimeter Fahrbahn verschenkt; die Wartehäuschen werden auf den Bürgersteig verbannt. Die Fahrradwege sollen als enge Spuren auf den Gehwegen und um die Wartehäuschen herum verlaufen, obwohl die Bundesgesetzgebung solche Wegführung mittlerweile als gefährlich und untauglich einschätzt. Die Baumreihen werden fast komplett abgeholzt.

Bei der Planung der Fahrbahn hat der Senat seine Liebe zu Linksabbiegern entdeckt. Die beiden Schienentrassen sollen soweit auseinandergelegt werden, das auf der ganzen Strecke östlich der Strelitzer Straße ein eigener Mittelstreifen entsteht, von dem man bequem in die bisher verschlafenen Seitenstraßen einbiegen kann. Auch auf der bereits existierenden Trasse in Prenzlauer Berg erhalten die Autos eine breite Mittelspur, um an der überlasteten Kreuzung am U-Bahnhof Eberswalder Straße besser in die Schönhauser Allee abbiegen zu können. Ziel dieser Maßnahme ist angeblich eine Beschleunigung der Straßenbahn ­ bisher muß sie hier hinter den Linksabbiegern warten, Aber da der Ausbau des Innenstadtrings den Autoverkehr deutlich steigern wird, dürfte dieser Plan bald wieder Makulatur sein.

Das Mogelpaket Straßenbahnausbau ist, wenn es wie geplant umgesetzt wird, Straßenbau aus den Töpfen des öffentlichen Personennahverkehrs. Für die Schienenverlegung im Asphalt muß erst eine Asphaltdecke angelegt werden, auf der anschließend der Autoverkehr fließen kann. Auch die Linksabbiegespur asphaltiert man freundlicherweise für die Autofahrer gleich mit. Das enorm aufwendige Ampelsystem, das Geradeausfahrer, Ein- und Abbieger sowie den Zustieg zur Straßenbahn regulieren soll, gilt ebenfalls als Teil des Straßenbahnausbaus. Aus dem Etat für Straßenbau muß man nur noch ein bißchen Asphalt links und rechts vergießen und die Fahrbahnen markieren. Zusätzlich werden unpopuläre Einzelmaßnahmen wie den Kahlschlag an Alleebäumen und die Verlärmung der Seitenstraßen der Tram in die Schuhe geschoben.

Malte Fuhrmann

Bis zum 22. Oktober können gegen die Pläne Einwände eingereicht werden: Senator für Stadtentwicklung, VII F 3, Am Köllnischen Park 3, 10179 Berlin, fon 9025-1565 oder 9012-6606

Die Pläne einsehen kann man nur noch bis zum 8. Oktober bei den Stadtplanungsämtern von Mitte, Iranische Straße 3, und Pankow-Weißensee-Prenzlauer Berg, Storkower Str. 139c.

 
 
 
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