Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Shakuntala

Auszug aus dem Roman Larung von Ayu Utami

Die indonesische Schriftstellerin, Journalistin und Aktivistin Ayu Utami, geb. 1968, ist beim 3. internationalen literaturfestival berlin zu Gast und nimmt auch an der scheinschlag-Podiumsdiskussion über die „Stadt als Realität und Fiktion" teil. Larung bildet den zweiten Teil eines Romanzyklus', dessen erster Teil 1998 vor allem wegen der offenen Thematisierung von Sexualität in Indonesien Aufsehen erregte.

Ich hatte einen Bruder. Er war der Erstgeborene. Meine Eltern waren der Meinung, Jungen neigten mehr zu rationalem Denken, während Mädchen eher vom Gefühl her lebten. Männer führen, und Frauen umhegen sie. Männer erschaffen etwas, Frauen bewahren es. Männer machen Kinder, Frauen bringen sie zur Welt. Und so lehrte mein Vater meinem Bruder, wie man seinen Verstand benutzt, um seinen Körper zu beherrschen und die Welt zu kontrollieren. Mich hielt er nicht dazu an, weil er meinte, ich wäre dazu sowieso nicht in der Lage. DIE FRAU WURDE AUS EINER RIPPE GESCHAFFEN. DAHER IST SIE DAZU BESTIMMT, SICH ZU KRÜMMEN, AUF DASS SIE DURCH DEN MANN GERADE GEBOGEN WERDE. (BRIEFE, XIV, 1266)

Dies nun war die erste Lehre, die uns mein Vater gab: SOGAR DER URIN DER FRAU RIECHT SCHÄRFER ALS DER URIN DES MANNES. (N.S. 1987). Nur ihr Kot ist derselbe. Vergleicht nur den Abort der Frauen und den der Männer. Deshalb, meine Kinder, können die Riesen schon aus der Ferne ihren Geruch wahrnehmen. So wie die Haie die Richtung spüren, wo es Fleisch gibt, wissen sie, wo eine Jungfrau zu finden ist. Und auch, wo die sind, die keine Jungfrauen sind.

Die zweite Lehre meines Vaters war für seinen erstgeborenen Sohn bestimmt: Klettere auf eine Palme. Damals war mein Bruder erst neun. Mein Vater stellte ihn vor eine Palme, die er als junger Mann selbst gepflanzt hatte und in deren Stamm er jedesmal, wenn er 30 cm gewachsen war, eine Markierung geschnitzt hatte. Inzwischen war sie 15 Meter hoch. „Der rechte Platz für einen Mann, mein Sohn," sagte er, „ist DA OBEN". Dabei zeigte er auf den Fruchtstand im Wipfel. „Bevor ein Soldat Befehlshaber wird, muß er Wächter auf einem Turm werden. Also, los mein Held, laß die Palme dein Wachtturm sein, den Ort, von dem aus du deine kleinen Schwestern vor den Riesen schützt, die im Wald dort hinten lauern."

Mein kleiner Bruder heulte zum Steinerweichen, denn der Baum war schrecklich hoch. „Meine Schwestern sollen doch selbst auf sich aufpassen!" schrie er. In diesem Moment fuhr der Wind in den Baum, und ein großer trockener Palmzweig fiel meinem Bruder auf den Kopf. Da heulte er noch viel stärker auf, denn er hielt das für das Zeichen, daß er hinaufklettern sollte. Dabei würde er sicherlich, wenn er oben angelangt wäre, zu Tode stürzen. Und dann würde er ein kahlköpfiges Gespenst in einem Leichentuch werden, das herumrollte wie eine Kokosnuß. Mein Vater griff nach einem Besen aus Palmrippen und schlug ihm damit von hinten auf die Schenkel, bis sie rote Striemen bekamen und rief: „Heulen ist Sache von Mädchen. Deine Sache ist es, Mut zu zeigen!"

„Ich will kein Gespenst werden!" schrie mein Bruder.

„Gespenster gibt es nicht. Was es aber gibt, das sind RIESEN."

Das Heulen wollte aber nicht aufhören, und so band ihm der Vater die Hände auf dem Rücken zusammen, fesselte ihn an die Palme und drohte, ihn dort stehen zu lassen, bis es dunkel würde und die Riesen kämen, die den Mond auffressen. Und weil an diesem Abend der Mond nicht schien, würden die wilden Kerle das Fleisch kleiner Kinder fressen und ihnen das Hirn aussaugen. Und die Feen auf der Wiese würden zu singen anfangen, wenn sie kämen: Ihr wilden Riesen, was seid ihr für Schufte! So die ganze Nacht lang, bis die Hähne krähen. Und keine Rorojanggrang würde den Morgen schneller kommen lassen. Mein Bruder zitterte am ganzen Leib. Der Vater sprach ihm Mut zu: „Wenn du dir selbst Mut machst und immer wieder rufst ,nicht heulen! nicht heulen! nicht heulen! ...', dann hört das Heulen auf, mein Junge. Wenn du dir zurufst ,mutig sein! mutig sein! mutig sein! ...', dann kriegst du auch Mut."

Schließlich folgte mein Bruder dem Rat seines Vaters. Es dauerte allerdings eine Weile. Obwohl seine Augen noch geschwollen waren und ihm die Tränen noch über die geröteten Wangen liefen, begann er, ein Loblied auf seinen Mut anzustimmen. Endlich nahm ihm der Vater die Fesseln ab, und mein Bruder machte sich daran, auf die Palme zu klettern. Ich konnte ihn noch rufen hören: Mutig sein! Mutig sein! Mutig sein! ... Bis er oben angelangt war, und seine Rufe unten nicht mehr zu hören waren. Langsam entschwand er auch meinen Blicken. Endlich war er ganz zwischen den herabhängenden Palmwedeln verschwunden. Und weil ich nicht mehr erkennen konnte, ob er sich noch bewegte, glaubte ich schon, er wäre an verborgenen Bohnenstangen weiter in den Himmel geklettert. Nur einmal ließ ein Windstoß die Palmzweige hin und herschwingen.

Nach einiger Zeit hieß ihn der Vater wieder herunterzukommen. Und tatsächlich stieg er ganz langsam wieder nach unten. Jetzt hatten sich seine Beschwörungen geändert: Es tut nicht weh, es tut nicht weh, es tut nicht weh ... Unten angekommen, sahen wir, daß sich ein Gecko in seinen Ringfinger verbissen hatte, der nun blutete. Aber er hatte aufgehört zu weinen.

Nun weiß man ja, daß ein Gecko, der zugebissen hat, nur bei einem plötzlichen Donnerschlag wieder losläßt, aber da keine Regenzeit war und damit auch kein Gewitter kommen würde, führte der Vater meinen Bruder in die dunkle Küche, wo es nach Asche roch. Er hielt seine zitternde Hand auf ein Hackbrett, holte mit dem Haumesser aus und teilte mit einem Hieb, der keine drei Millimeter weit von der Fingerspitze niederging, das Reptil in zwei Stücke. Kein Schrei war zu hören. Darauf setzte der Vater ein zufriedenes Grinsen auf, denn mein kleiner Bruder hatte endlich aufgehört zu flennen. (Vielleicht hat er von da an für immer mit dem Weinen aufgehört.)

Seitdem jedenfalls war er überzeugt, daß der Verstand über den Leib herrscht. Nun war es sein Wunsch, den Körper zu besiegen. Als er später das Fach Biologie bekam, wollte er nicht glauben, daß es Muskeln gäbe, deren Zellen willkürlich reagierten, und solche, deren Zellen unwillkürlich reagierten. Er war der felsenfesten Meinung, alle Muskeln unterlägen bewußten Impulsen, egal, ob sie glatt oder gestreift wären. Daher kam er in Biologie nie über ein „genügend" hinaus (allerdings auch das nur, weil es noch andere Gebiete gab, die seine Note wieder aufbesserten).

Als er dann in die Pubertät kam, entwickelte er eine neue Angewohnheit. Mindestens jeden zweiten Tag übte er Erektionen. Er ging ins Schlafzimmer oder ins Bad, stellte sich hin oder legte sich auf den Boden und wiederholte dabei die Worte: ngaceng, ngaceng, ngaceng ... Dann erhob sich sein kleiner Penis. Anfangs half er mit der Hand nach. Aber das war ihm nicht sportlich genug. Nach einem Jahr konnte er tatsächlich seinen Penis allein mit Worten zum Stehen bringen. Der nächste Schritt bestand nun darin, die Erektionen nach ihrer Dauer zu bestimmen. Dabei unterschied er drei Kategorien: kurz, mittel und lang. Er übte so lange, bis er sie alle drei beherrschte. Dann steigerte er den Schwierigkeitsgrad, indem er Gewichte an seinen Penis hängte. Von Tag zu Tag erhöhte er das Gewicht, bis er schließlich im Stand war, auf diese Weise ein Vorhängeschloß hochzuhalten. Ich weiß das alles, denn ich beobachtete ihn heimlich durch das Schlüsselloch oder auch durch das Luftloch über der Tür. Er behielt diese Angewohnheit bei, bis er erwachsen und sein Schamhaar voll und stark war.

Eines Tages konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich sagte zu ihm: „Toll! Du kannst ja ohne weiteres Gigolo werden."

„Woher weißt du das?" fragte er.

„Weil ich dich heimlich beobachtet habe."

Er war mir überhaupt nicht böse. Aber vielleicht ist er auf diese Weise schließlich schwul geworden.

Aus dem Indonesischen von Peter Sternagel

 
 
 
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