Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Spaziergänge in Spray-Athen

Backjumps im Bethanien

Jeder Stadtbewohner hat sie irgendwo schon mal gesehen: Zeichen und Spuren von meist im Verborgenen arbeitenden, sprayenden Künstlern, hinterlassen auf einem Verkehrsschild, einem Stromkasten oder einer U-Bahn. Das Sprayen von sogenannten „Tags", von Slogans und Bildern aller Art, ist eine Kunstform, die sich innerhalb der letzten 35 Jahre abseits des offiziellen Kunstdiskurses entwickelt hat.

Mit der Ausstellung Backjumps ­ The Live Issue wird erstmals in Europa versucht, einem breiteren Publikum die internationalen Entwicklungen, Zusammenhänge und Techniken von Street Art, Aerosol-Kultur und Hip-Hop näher zu bringen. Ein wichtiger Motor dieser Bewegung ist das internationale Netzwerk von auf der Straße arbeitenden Kunstaktivisten, das Kurator Adrian Nabi mit seinem Magazin Backjumps seit neun Jahren kontinuierlich aufgebaut hat.

Eingeladen wurden über 40 KünstlerInnen aus zahlreichen Weltmetropolen, die ihre Vorstellungen zu „urban culture" und Kunst im städtischen Raum in Vorträgen, Diskussionen, Workshops und Konzerten präsentieren. Dem Paradoxon, Straßenkunst in geschlossenen Räumen zu präsentieren, entgehen die Veranstalter, indem neben den exponierten Arbeiten zahlreiche ergänzende Aktionen durchgeführt werden, die den Bezug zum Außenraum herstellen sollen: Immer sonntags finden Stadtpaziergänge mit Künstlern zu themenrelevanten Orten statt. Das Eiszeit-Kino zeigt Filmscreenings, in deren Anschluß Gespräche mit den Filmemachern und Künstlern möglich sind, und in Vorträgen und einem „Round-Table"-Gespräch stehen die Legitimität von „Street Art" und ihre Wechselwirkung zu anderen Systemen wie Design, Mode und Architektur auf dem Programm.

Wie lebendig und präsent „Street Art" in Berlin ist, verdeutlichte bereits der massenhafte Andrang zur Aftershow-Party am Eröffnungstag, bei der Hunderte von Besuchern ihrer Kreativität freien Lauf ließen und mit dem Edding ihre Zeichen setzten.

Die Ausstellung selbst bietet einen kleinen, aber künstlerisch hochwertigen Einblick zum aktuellen Stand der Kunst im öffentlichen Raum. Transmedialität und Interaktivität, politischer Widerstand gegen das kommerzielle Inferno, Überlebensstrategien und, allem Ernst zum Trotz, der Spaß bei der subversiven Nutzung der Straße als Galerie ­ das sind die Hauptthemen der Künstler. Ignacio Aronovich und Louise Chin dokumentieren mit Fotos und O-Tönen das (Über)Leben von Straßenkünstlern in São Paulo; Pips:Lab schaffen einen Raum, in dem man mit Licht aus Sprühdosen eigene, virtuelle Tags erzeugen und auf Knopfdruck speichern lassen kann. Für den Pariser Jay 1 ist besonders die Geste des Erschaffungsprozesses wichtig, welcher vor seinem Wandbild auf Video dokumentiert ist; ein Aspekt, den der Film ITSSOFRESHICANTTAKEIT der Schweden Nug & Pike noch weiter führt: Der Film zeigt, wie ein entrückt zuckender, anonymer Mensch mit expressionistischer Energie einen U-Bahnhof besprüht .

Swoon:Toyshop aus New York fordern dazu auf, den Inhalt ausliegender Päckchen mitzunehmen, auf der Straße zu installieren und ein Foto dieser Präsentation an die Gruppe zu schicken, Lokiss entfacht auf einer Computeroberfläche, die vom Besucher gesteuert werden kann, ein brachiales Feuerwerk aus Zeichen und Sounds, von denen man sich im Raum der Amsterdamer Gruppe Machine erholen kann: Dort findet sich ein festlich gedeckter Tisch inmitten völliger Ruhe. Erst ein genauer Blick auf die kleingemusterte Tapete zeigt, daß „Street Art"-Symbole universell einsetzbar sind ­ sogar als Ornamente bürgerlicher Behaglichkeit.

Thomas Gensheimer

> Die Austellung ist noch bis zum 5. Oktober im Kunstraum Kreuzberg im Künstlerhaus Bethanien, Mariannenplatz 2, Kreuzberg, sowie in der Brunnenstraße 171, Mitte, zu sehen.

> Die Vorträge und Round-Table-Gespräche finden am Sonntag, dem 7. September ab 14 Uhr im Künstlerhaus Bethanien statt.

> Anfragen und Anmeldungen zu Workshops und Führungen unter: backjumps@kunstamtkreuzberg.de

 
 
 
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