Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

POLNISCHE KLEINSTADT IN BERLIN UNTERGETAUCHT!!!

Grenzstadt Berlin: Polnische Migration im Spiegel der Berliner Presse (I)

Von Berlin zur polnischen Grenze sind es kaum 80 Kilometer. Polnischsprachige Leute gibt es zuhauf in Berlin – nicht erst seit gestern. Um 1900 gruben Polen den Teltowkanal in den Sand und bauten ganze Stadtviertel. Ohne polnische Bauarbeiter keine Hauptstadt – das galt zu Kaisers Zeiten wie vor wenigen Jahren noch am Potsdamer Platz. Heute sind in Berlin 30000 Polen gemeldet. Die Zahl derer, die tatsächlich hier leben, liegt wesentlich höher. Doch betrachtet man die folkloristischen Signale, durch die „Minderheiten" in Berlin auf sich aufmerksam machen – Wagen beim Karneval der Kulturen, Restaurants oder Geschäfte –, sind sie nahezu unsichtbar.

In der ganzen Bundesrepublik wird die Zahl der Menschen mit polnischer Muttersprache auf über zwei Millionen geschätzt. Allerdings taucht diese Zahl, nach der die Polnischsprachigen nach den Türken wohl die zweitgrößte Einwanderergruppe in Deutschland stellen würde, in keiner offiziellen Einwanderungsstatistik auf. Im Bewußtsein der deutschen Gesellschaft existieren die Polen nicht einmal als eigenständige kulturelle Größe. Das heißt jedoch nicht, daß es kein Bild von ihnen gäbe. Wer an Polen in Berlin denkt, hat in erster Linie Baustellen, Putzfrauen, Prostituierte, vielleicht auch noch den „Polenmarkt" aus der Wendezeit vor Augen.

Wer aber sind nun diese Leute? Wer kam warum hierher? Werden die Leute zu dauerhaften Stadtbewohnern oder sind sie Grenzgänger? Was tun sie und auf welche Weise werden sie in dieser Stadt wahrgenommen? Eine Artikelserie im scheinschlag versucht, sich diesen Fragen zu nähern. Die Wahrnehmung der polnischen Einwanderer spiegelt sich in der Vielzahl von Geschichten wieder, zum Beispiel in der Presse. Geschichten, die oft von Autodiebstählen und Schieberbanden handeln oder von Schwarzarbeit, manchmal auch vom Katholizismus und vom Papst. Als ein Versuch, dieses Polenbild zusammenzupuzzeln, werden Zeitungsberichte gesichtet, gesammelt und eine Art Zusammenschau produziert. Den Polen, so die Arbeitshypothese, wirft keiner vor, daß sie schreckliche Ghettos bilden oder unsere Gesellschaft durch gefährliche Fundamentalismen überfremden wollen. Das Bild von den Polen ist eher unterschwellig kein Gutes. Der seltsame Onkel, der zwar zur Verwandtschaft gehört, den man aber für ein bißchen halbseiden hält und sich gerne ein wenig von ihm distanziert ­ vielleicht gerade deshalb, weil dieser Onkel eigentlich zur Familie gehört. Und es mag sein, daß die Unterschiede auf den zweiten Blick geringer sind als erwartet.

Bereits bei den Vorarbeiten ergaben sich einige Probleme: Zum einen sprengen allein die viele Hin- und Her-Pendelei und die sogenannten „doppelten Identitäten" den üblichen Begriff von Migration und erschweren die Lesbarkeit von Statistiken. Zum anderen lassen sich die Polen formal nur schwer von den Deutschen unterscheiden: Die letzte große historische polnische Einwanderungswelle, die der sogenannten „Ruhrpolen", die sich in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung am Rhein, an der Ruhr und in Berlin niedergelassen hatten, war streng genommen keine Immigration, sondern eine Binnenwanderung. Die 300000 ethnischen Polen, die damals nach Westen wanderten, waren im staatsbürgerlichen Sinne Deutsche aus den östlichen Provinzen Preußens. Sie sprachen jedoch Polnisch, verfügten über einen polnischen Kulturbegriff und gründeten eine Unzahl polnischer Vereine und Organisationen. Diese Ruhrpolen haben zahlreiche polnische Familiennamen hinterlassen ­ 14 Prozent der Deutschen tragen slawische Namen, viele davon polnische ­ und sind abgesehen davon durch Assimilation rückstandslos in der deutschen Gesellschaft aufgegangen. Eine nächste Einwanderungswelle, die der „Vertriebenen" nach dem 2. Weltkrieg aus den ehemals deutschen Ostgebieten, betraf größtenteils ethnisch Deutsche. Einige unter ihnen waren jedoch auch mit doppelter Identität aufgewachsen und mindestens zweisprachig.

Vollends unscharf wird die Klärung der Identität der Einwanderer mit der dann folgenden Migration der Aussiedler bzw. Spätaussiedler. Von der Vertreibung aus den „Ostgebieten" ausgenommen war eine „angestammte Bevölkerung" mit einem „schwebenden nationalen Bewußtsein", die polnische Dialekte benutzte (Andrzej Kaluza, 2001). Diese Leute waren „ethnisch" Polen, und wurden von den Volkspolen bei klarem Bekenntnis zur polnischen Nation als Polen aufgenommen, galten jedoch nicht als vollwertig, da ihr Polentum eben nur „ethnographischer Natur" war und man nach über 700 Jahren jenseits des polnischen Staates nicht mehr recht von einer „nationalen Identifikation" ausgehen konnte. Das wiederum führte dazu, daß viele von ihnen nach Deutschland auswanderten, vorzugsweise in die Bundesrepublik.

Mit den deutsch-polnischen Abkommen zur Familienzusammenführung von 1970 und 1975 und vor allem im Zuge der dramatischen Verschlechterung der polnischen Wirtschaftslage Anfang der achtziger Jahre verstärkte sich der Trend zur Auswanderung. In den achtziger Jahren kamen etwa eine Million Zuwanderer aus Polen nach Deutschland; viele ließen sich einbürgern. Ein Sprichwort sagte, ein deutscher Schäferhund in der Familie genüge für die Anerkennung. Deutsche Vorfahren wurden irgendwie nachgewiesen, deutsche Familienmitglieder ins Feld geführt oder gar dubiose Eintragungen in „deutsche Volkslisten", über die sich im 2. Weltkrieg Polen germanisieren lassen konnten. Die Mehrzahl der Polnischsprachigen in Berlin haben heute deutsche Pässe. Nur in zweiter Linie gibt es anerkannte Asylanten (ehemalige Solidarnosc-Aktivisten) oder geduldete Flüchtlinge. Erst seit sich Ende der achtziger Jahre die Gesetze für polnische Migranten verschärften, ebbte die Einbürgerungswelle ab. In jüngerer Zeit ist eher der Werkarbeitsvertrag der gängige legale Status von Polen, die nach Deutschland kommen. Hinzu kommen Illegale und Pendler, deren Zahl schwer zu schätzen ist.

Eine weitere Arbeitshypothese unserer Serie ist, daß sich die Haltung gegenüber den Polen ­ oder Polnischsprachigen ­ in jüngerer Zeit verändert hat. An der Aufnahme von Vertriebenen und Aussiedlern gab es ein erklärtes Interesse der Regierung ­ wenn auch damals schon alte Ressentiments gegen Polen griffen. Die politischen Asylbewerber aus der Solidarnosc-Zeit profitierten von den Feindbildern des Kalten Krieges, und die Regierung Berlins wünschte noch 1987 ausdrücklich, daß Polen sich dauerhaft in der Stadt ansiedeln.

Die späteren Migranten gerieten mehr und mehr in den Ruch, parasitäre „Wirtschaftsflüchtlinge" zu sein, und stießen auf größere Widerstände. Es mag sich zeigen, daß sich in den Jahren nach der Vereinigung die Geschichten häufen, die in diese Richtung weisen. Möglicherweise sind die polnischen Migranten, die in Zeitungsgeschichten als Schwarzarbeiter, Autodiebe und Prostituierte vorgestellt werden, Projektionsflächen für die Zukunftsangst der deutschen Berliner ­ vor größerer Unsicherheit, weniger Wohlstand und Identitätsverlust.

pisp

> In der nächsten Ausgabe: Von den frühen achtziger Jahren bis zur Wendezeit und dem „Polenmarkt".

 
 
 
Ausgabe 07 - 2003 © scheinschlag 2003