Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Schmalzproduktion und Schmutzkampagne

Die Geschichte des Hauses Bergstraße 69/70

An der Toreinfahrt steht: „Hier sind kleine Wohnungen zu vermieten." Das Foto schoß Heinrich Zille um 1910. Heute bietet ein viel größeres Schild Wohnungen mit bis zu 170 m2 zum Kauf an. In der Bergstraße 69/70 zu wohnen, ist im Jahr 2003 sicher erstrebenswert, so man über das nötige Kleingeld verfügt. Bei der Sanierung hat man unauffällig die beliebten Dachgeschoß-Wohnungen in das Baudenkmal eingefügt; im Hof wurden Balkone angebracht. Die Gartenhäuser liegen zwischen relativ großzügigen Höfen, die künftig ausschließlich der Erholung und Freizeit der Bewohner dienen. Eine weitere private Grünanlage soll über der Tiefgarage des Nachbargrundstücks entstehen.

Das heute „Weinberger-Quartier" betitelte Grundstück beherbergte zwischen 1921 und 1935 eine Produktionsstätte des Berliner Lebensmittel-Grossisten Weinberger. Der Konzern war damals das größte Privatunternehmen der Butter- und Fettbranche Deutschlands. Stammzelle des Familienunternehmens war ein Lebensmittelgeschäft in der Hollmannstraße 16 in Kreuzberg, nahe der Stelle, wo heute das Jüdische Museum steht. Hermann Weinberger heiratete in die Familie ein und gründete 1912 einen Lebensmittel-Handel. Später wurde das Unternehmen in die Brunnenstraße 188-190, in das „Industriehaus Rosenthaler Tor" verlegt, wo heute eine Gedenktafel daran erinnert.

Während die Verwaltung der „Gebrüder Weinberger" in der Brunnenstraße verblieb, wurde die Produktion und Lagerung in die Bergstraße 70 verlegt. Von hier aus wurden die 125 eigenen Geschäfte, Großmärkte und 10000 Einzelhandelsgeschäfte in und um Berlin beliefert. In den Gewölben befand sich die Schmalzfabrikation, hier standen auch Fabrikationsanlagen mit Butter-Misch- und Packmaschinen. Allein in Berlin waren 800 Mitarbeiter beschäftigt, insgesamt standen 2000 auf den Gehaltslisten. Neben diversem Grundbesitz gehörten zur Weinberger oHG noch weitere Firmen: Molkereien, Dampfsiedereien, Einzelhandelsketten.

Nach der NS-Machtergreifung begann der Boykott des Konzerns ­ die Weinbergers waren Juden. Die Warenzulieferung wurde derart gedrosselt, daß die Verkaufsfilialen nicht mehr ausreichend versorgt werden konnten. Potentielle Käufer wurden aufgefordert, nicht „beim Juden" oder seinen Geschäftspartnern zu kaufen. Hetztiraden im Völkischen Beobachter oder in der Berliner Morgenpost suggerierten schlechte hygienische und die „Volksgesundheit" gefährdende Zustände in der renommierten Lebensmittelfirma. Auf Veranlassung von NS-Dienststellen konstruierte das Finanzamt eine Steuerforderung in Millionenhöhe. 1935 mußte der Konzern seine Beteiligung an der Thürmann-Einzelhandelskette verkaufen ­ an Reichelt. Die weitere Belieferung der Geschäfte wurde unterbunden. Der Gipfel der Perfidie: Obwohl das Unternehmen immer weniger Angestellte benötigte, waren Entlassungen untersagt.

Im März 1936 verbot der Polizeipräsident sämtliche Handelstätigkeit. Die drei Brüder Weinberger wurden nach Moabit in Untersuchungshaft gebracht. Nach ihrer Entlassung Ende Juli wurden ihre Pässe einbehalten. Ihr gesamtes bewegliches Vermögen war „verschwunden" und der Immobilienbesitz enteignet. Der Familie gelang die Flucht. 13 Jahre alt war Siegbert J. Weinberger, als er im März 1938 Berlin überstürzt verließ. Bis heute lebt er in den USA. Am 3. September wird in der Bergstraße 69/70 eine von ihm gestiftete Gedenktafel eingeweiht.

Sabine Krusen

Foto: Archiv Krusen

 
 
 
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