Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Volkssportler und Legionäre

In der Gaststätte „Weberwiese" trifft sich seit über 80 Jahren die Nachbarschaft

So groß und protzig, auch faszinierend die großen Häuser an der ehemaligen Stalinallee wirken mögen, hier stehen keine Potemkinschen Dörfer, hinter denen die Welt sich in Nichts auflöst. Im Gegenteil: Wer den Weg sucht durch die Durchgänge zwischen Warschauer Straße und Straße der Pariser Kommune, gerät unversehens in eine überraschende Beschaulichkeit. Direkt dahinter ebbt der Lärm der Allee ab und mündet abrupt in eine Ruhe, die in der Nähe von Hauptverkehrsstraßen unmöglich zu sein scheint.

Wer diese Ecke von der anderen Seite, der Grünberger Straße betritt, bemerkt schon von weitem den Eingang zu dieser Kostbarkeit: eine breite Häuserfront mit einem Turm links auf dem Dach, eine Durchfahrt zwischen Säulen, die zumindest für Autofahrer keine ist. Die Poller an dieser Stelle sind der Garant für die Stille, nur Radfahrer und Fußgänger können die Gubener Straße weiterziehen zwischen Fünfziger-Jahre-Architektur und Altbauten.

Am Ende der Gubener Straße stößt man auf die Gaststätte „Weberwiese". Darin treffen sich die Anwohner des kleinen Viertels. Die Kneipe ist einfach, ja bieder ausgestattet. Pokale künden von den Erfolgen der Volkssportgemeinschaft (VSG) Weberwiese, die seit über 20 Jahren Fußball spielt. Die Tische sind schlicht, der Wirt begrüßt die Stammgäste mit Handschlag. Was die nähere Umgebung an Ruhe ausstrahlt, spiegelt sich auch hier wider.

Schon vor 30 Jahren kamen die Gäste nach dem Motto: Raus aus dem Alltag und rein ins Vergnügen. Vor allem junge Männer, die gerade ihren Dienst in der NVA hinter sich gebracht hatten, besuchten die Weberwiese, tranken ihr Bier und gründeten 1972 ihre VSG. „Man tat das eine, ohne das andere zu lassen", faßt der langjährige Stammgast und Diplom-Historiker Rudolf Reddig zusammen. Das von vielen damals als bedrückend empfundene Leben im Sozialismus fand sein Ventil im Alkohol. Sport zu treiben habe geholfen, Schlimmeres zu verhüten, sagt Reddig. Schon als Jugendliche scharten sie sich auf dem Rasen der nahe gelegenen Weberwiese um ein Radio, aus dem West-Musik dröhnte, was die Volkspolizei immer wieder unterband. Jugendclubs gab es in den sechziger Jahren nicht, da blieb später abends nur die Kneipe, um sich zu treffen. Mit „Dieses monotone ,Yeah, Yeah'! Unsere Jugend sollte eigene Lieder haben", zitiert Reddig, selbst Jahrgang 1952, den „Spalta-Walta" Ulbricht und beschreibt das Unbehagen der SED gegenüber westlicher Jugendkultur.

Trotz des Klischees von der „roten Kneipe", das von den liberaleren Prenzlauer Bergern gepflegt wurde ­ das Viertel war nicht nur von Parteigängern bewohnt. Die meisten Gäste der Weberwiese haben mit dem Sozialismus nichts am Hut gehabt, sagt Reddig. „Rotlichtbestrahlung" war ihnen zuwider, es herrschte in der Kneipe eine Art Stillhalteabkommen mit den Linientreuen, die dort auch verkehrten.

Der Name der Kneipe hat sich in 80 Jahren nicht geändert. Reddig will nächstes Jahr eine Chronik herausbringen. Ende der zwanziger Jahre beispielsweise tummelte sich so mancher Rotfrontkämpfer in der Weberwiese. Ganz in der Nähe an der Karl-Marx-Allee – heute befindet sich dort ein kleiner Supermarkt – trafen sich die politischen Gegner, und so hauten sich Kommunisten und Faschisten so manches Mal irgendwo zwischen den Kneipen auf der Straße. Am 17. Juni 1953 zerstreuten sowjetische Panzer die Menschenmenge etwa 200 Meter von der Gaststätte entfernt. Und heute? Seit 1991 führt Andreas Bartke die Kneipe, es ist immer noch das Laissez faire der Vorwendezeit zu spüren. Die Leute trinken ihr Bier und manchmal findet ein besonderer Gast den Weg in die Weberwiese: Etwa der Mann, der in einer Ausgehuniform der Fremdenlegion und breitem Berlinerisch von Indochina erzählt und dann wieder in flüssigem Französisch ein paar Sätze zum Besten gibt. Die Umsitzenden rätseln später über den Jahrgang des komischen Kauzes und Bartke bemerkt trocken: „Den kenn ick! Der saß hier ooch schon inner Uniform der Lufthansa".

Stefan Eckhardt

 
 
 
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