Ausgabe 07 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Aasgeier

Wo alles Leben gewichen ist, dort tritt die Kunst auf den Plan. Sinnbild dafür ist die Ruine: Ein Bauwerk, das keinen Zweck mehr erfüllen kann oder zu erfüllen braucht, ist immer noch, ist dann erst recht oder überhaupt erst dann: ein schönes Bild. Der touristische Blick, der auch ein ästhetischer ist, richtet bevorzugt auf Bauwerke sich, die keinen Zweck mehr zu erfüllen haben, auf DDR-Hinterlassenschaften, antike Mauerreste – wenn nicht gleich auf die Nekropolen. Kein Wunder, daß der Ruinencharme zum Leitbild der (sub-)

kulturellen Szenen im Berlin der neunziger Jahre und ihrer Vermarktung wurde ­ Romantik in der Großstadt. In den sophiensaelen, wo Theater, Musik und Performance ein Podium haben und in diesen Tagen das internationale literaturfestival seinen Veranstaltungs-Aktionismus abfeiert, ist man stolz auf den knarrenden Fußboden und die brökkelnde Farbe. Das hat doch was.

Wo alles Leben gewichen ist und vorerst keine ökonomischen Verwertungsinteressen bestehen, dort darf die Kunst sich produzieren ­ heute vorzugsweise als Zwischennutzer. Vielleicht läßt das Objekt nach diesem Intermezzo ja sich teurer verkaufen. So geht Ende September die Geschichte der ehemaligen Staatsbank in der Französischen Straße als unabhängiger Kunstort zu Ende: Die ehemalige Bank wird an einen „privaten Investor" verkauft.

Die Herren Investoren, denen die gesamte Berliner Politik jederzeit in den Arsch zu kriechen bereit ist, sind freilich auch nur noch an einigen Filetstücken in Innenstadt-Lage interessiert. Der Rest geht den Bach runter. Im Wedding wird nicht mehr viel zu gentrifizieren sein. Dort, wo vor wenigen Jahren noch Läden und Kneipen waren, die von all den Centers oder Passagen plattgemacht worden sind oder deren verarmte Klientel jetzt an der Imbißbude säuft, hält nun jedenfalls auch noch die Kunst Einzug. Ob im Wedding oder in Pankow, im Friedrichshain oder im Wrangelkiez: Überall wurden in den letzten Jahren Zwischennutzungsinitiativen gestartet, leerstehende Ladenlokale mietfrei oder „mietgünstig" Kulturschaffenden überlassen. Was, scheint nicht so wichtig: Hauptsache, es passiert dort überhaupt wieder irgendetwas, und zu besichtigen sind dann meistens die faden Ausläufer der infantilen Berliner Neunziger-Jahre-Spaßkunst. Galerien schießen aus dem Boden, in denen selbstgebastelter Kram feilgeboten wird, und man fragt sich schon, wie es in einer Stadt wie Berlin, in der es so gut wie keine finanzkräftigen Sammler gibt, zu so einem Galerienboom kommen kann.

Auch dort, wo kein Quartiersmanagement darum sich kümmert, daß der Leerstand in Künstlerhände gelangt, in der Kastanienallee etwa oder in der Veteranenstraße, eröffnet ein seltsamer Kreativ-Kramladen nach dem anderen, in dem Design-Trash aus den siebziger Jahren oder selbstentworfene Klamotten feilgeboten werden. Kaum vorstellbar, wie man aus dem Erlös solcher Klitschen die Miete für die Ladenlokale bezahlen und zumindest auf Sozialhilfe-Niveau leben kann.

Berlin ist am Ende und die Kunstszene floriert ­ zumindest nach quantitativen Gesichtspunkten. Die noch immer vergleichsweise günstigen Lebenshaltungskosten ermöglichen es zigtausenden „Kreativen", am Rande der Selbstausbeutung die Stadt mit ihren Aktivitäten, ihren bunten Galerien und Läden zu überziehen und in vielen Kiezen eine lebendige Oberfläche zu simulieren. Die Stadtpolitiker und -vermarkter dürfen sich freuen ­ und können auf all das selbstorganisierte Gewese verweisen, wenn sie den letzten Geldhahn zudrehen und den Kulturhaushalt nur noch mit den Renten der Opernintendanten belasten wollen. So geht es doch auch. In New York gibt es auch keine Kulturförderung.

Die harmlosen, netten Künstler, die Häschen auf T-Shirts drucken und für ihre Lounges die alten Sofas aus dem Keller holen, sie könnten am Ende als Aasgeier sich erweisen.

Florian Neuner

 
 
 
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