Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

„Wozu haben die uns hergeholt?"

(aus: Meine Emigration)

Wir wohnten also auf dem jüdischen Friedhof. Eigentlich war es eine Vierzimmerwohnung mit gemeinsamer Küche, Bad und Toilette, jede Familie bewohnte ein Zimmer. Das Wohnheim auf dem Friedhof galt unter Emigranten beinahe als das beste in der Stadt, obwohl das Wort „Friedhof" viele schockierte. „Na und", antwortete mein Mann stoisch, „Tote verhalten sich ruhig."

Überhaupt, die „heimovskaya"-(Wohnheim-)Periode ist ein besonderes, wahrscheinlich das komplizierteste und dramatischste Kapitel im Leben unserer Emigranten. In den Heimen entstanden nicht wenige Märchen und Mythen, eine eigentümliche Emigrantenfolklore. Es ist ein angenehmes Gefühl, wenn man diese Märchen später erzählt, nachdem man bereits ausgezogen ist und sich in einer Wohnung eingerichtet hat. Aber in ein fremdes Land kommen, um besser zu leben, und dann ins Wohnheim geraten, das ist eine harte Prüfung.

Erstens stellte sich heraus, daß wir alle nicht mehr an Gemeinschaftswohnungen gewöhnt waren. Sie waren nur noch Erinnerungen an Kindheit und Jugend. In der Regel hatte jede jüdische Familie, unter Verzicht auf jedes Extra und bei drei Arbeitsstellen, dennoch die nötige Summe zusammengespart, um in eine Genossenschaftswohnung zu ziehen, denn vom Staat waren keine Almosen zu erwarten. Und zweitens, und das war die Hauptsache, man konnte Pech mit den Nachbarn im Heim haben. Es gab Wohnheime in der Stadt, wo Flüchtlinge jeder Art und jeder Hautfarbe im buchstäblichen Sinne des Wortes Tür an Tür miteinander wohnten, wie meine Großmutter sagte: „von allem Fleisch je ein Paar". Im realen Leben hieß das, daß rechts Schwarze aus Zaire lebten, links iranische Kommunisten, rechts Bosnier, die eher Zigeunern ähnelten, eine Tür weiter Polen und Albaner, gegenüber Algerier und letzten Endes unsere Leute ­ Juden.

Stellen Sie sich die vornehme Familie eines Professors vom Moskauer Konservatorium vor. „Der Junge kann nicht ohne Instrument! Ljowa muß jeden Tag seine Finger trainieren." Und eine Horde dreckiger, schreiender, spuckender bosnischer Zigeunerkinder, die alles klauen, was nicht niet- und nagelfest ist. Dazu noch eine gemeinsame Küche, mit den prächtigen Wohlgerüchen all dieser Speisen: „Mein Gott, Sofa, was kocht die Iranerin da? Ersticken kann man daran. Sowas ißt man im Zoo!" Und das gemeinsame Badezimmer mit Toilette: „Ljowa, mein Söhnchen, ich habe eine Bitte ­ faß nichts an! Du wirst krank. Hier wimmelt es von Bakterien!"

Und der Schlußakkord abends in der Gemeinschaftsküche: „Sjama, wohin hast du mich gebracht?", schrie Sofja Markowna, und allmählich traten immer mehr rote Flecken auf ihrem Gesicht hervor: „Das soll ein kultiviertes Land sein? Das sind unmenschliche Lebensbedingungen. Geh sofort in die Synagoge und sag denen da, daß du in Moskau einen Lehrstuhl verlassen hast. Du bist doch nicht irgendein Schmulik aus Hinterschwanzowka. Du bist Dozent! Du hast einen begabten Sohn! Sag ihnen, daß du in Moskau eine Dreizimmerwohnung in einem 120-Meter-Stalinbau zurückgelassen hast. Wozu haben die uns hergeholt?"

Und der arme Sjama rennt zur Synagoge in die Sozialabteilung, wo sie schon Dutzende solcher Dozenten, Professoren und aller möglichen Preisträger gesehen und gehört haben, und die jungen Mitarbeiterinnen verklickern ihm, daß keiner ihn nach Deutschland eingeladen hatte, daß er eine „Genehmigung" (Merken Sie den Unterschied?) erhalten habe und daß die Stadt für das Wohnheim zuständig sei. Daß die Synagoge sich freuen würde, die neuangekommenen Gemeindemitglieder besser unterzubringen, aber keine Möglichkeit habe, daß es Familien gebe mit gelähmten Alten und Säuglingen, die in winzigen Schiffskajüten wohnten, wo die gesamte Sozialhilfe einbehalten werde und die Leute Verpflegung geliefert kriegten, und zwar immer den Käse und die Wurst, von der alle in der Sowjetunion geträumt hätten, aber die einem nach einer Woche im Halse steckenbleibe. Außerdem gebe es noch eine Turnhalle mit Gardinen, wo es eine elektrische Lampe für zwölf Familien gebe, und wenn einer das Licht ausschalte, sich alle schlafen legen müßten.

Ja, die Synagoge weiß alles und kann nichts ändern. Wenn's Ihnen nicht gefällt, dann fahren Sie doch zurück an Ihren Lehrstuhl! Die Synagoge hat nur ein Wohnheim auf dem Friedhof, und dort sind schon alle Plätze belegt!

Oh! Wir hatten natürlich Glück. Als wir in Köln ankamen, wurde gerade eins der Zimmer frei. Irgendeine jüdische Familie zog vom Friedhof weg.

In Rußland waren wir Juden, das heißt Menschen zweiter Klasse. Die meisten hatten sich daran gewöhnt und ertrugen das mit stoischer Gelassenheit, wie schlechtes Wetter. Wer beklagt sich schon, wenn es draußen schneit und regnet? Es gab viele Witze darüber, z.B.: Kommt ein Jude, um sich Arbeit zu suchen: „Guten Tag! Ich bin Designer." „Ich sehe schon, daß du nicht Iwanow bist." Oder machen zwei die Aufnahmeprüfung für die Universität: Iwanow und Rabinowitsch: „Iwanow, in welchem Jahr fand der Große Vaterländische Krieg gegen Hitler statt?" „Von 1941 bis 1945." „Richtig! Und du, Rabinowitsch, nenn Namen und Geburtsdaten aller, die in diesem unsterblichen Kampf umgekommen sind."

Die Witze beschrieben das Leben. So war es. Und Humor ist die Schutzreaktion eines gesunden Organismus. Vielleicht sind deshalb die meisten Satiriker der Sowjetunion Juden. Aber es gab auch ernsthaftere Dinge, die das Wesen des Nationalcharakters ausmachten: den Kindern eine Ausbildung geben. Und jede jüdische Mutter, die sich über die Schulhefte ihres Sohnes beugte, sagte gewöhnlich: „Du mußt besser sein als Iwanow-Petrow. Um am Institut aufgenommen zu werden, mußt du drei mal so viel wissen."

Das hatte Folgen. Von den heutzutage nach Deutschland kommenden „Kontingentflüchtlingen" haben 72 Prozent eine Hochschulbildung. Welche nationale Minderheit kann sich dessen noch rühmen?

Aber ich bin abgekommen. Ich möchte auf die alten Zeiten zurückkommen, als wir noch „dort" lebten, das Leben mehr schlecht als recht dahinfloß, die Sowjetunion noch nicht zerfallen war und wir noch unter Russen, Ukrainern, Belorussen und Kasachen lebten. Die Kinder wuchsen heran, verliebten sich. Und nicht immer in denjenigen, den Mama und Papa wollten. Mit einem Wort, hierher sind viele gemischte Familien emigriert. So eine Familie lebte mit mir zusammen im jüdischen „Heim". Die Frau war Russin. Eine große und laute Person, die aus der Ukraine stammte. Ihr Mann war Jude, die Schwiegereltern ebenfalls, aber ihre Kinder galten nicht mehr als Juden. So sind unsere Gesetze. Sie litt sehr darunter, fühlte sich fremd und hatte deswegen Komplexe. Die Komplexe drückten sich eigenartig aus: „Wenn ich Russin bin, warum soll ich dann euch Juden alles hinterherräumen", tönte es aus der Gemeinschaftsküche, „die Mülleimer raustragen?" Beim Aufstellen des Putzplans gab man ihr weniger Tage. (Oh, unsere ewigen jüdischen Schuldgefühle!)

Im Sommer passierte noch so eine Geschichte. Ihre Kinder durften nicht in das von der Synagoge veranstaltete Erholungslager mitfahren. Der Sohn einer jüdischen Mutter und eines jüdischen Vaters durfte mit, aber ihrer nicht. Die Nachbarin heulte laut. Wir standen schweigend und niedergeschlagen in der Küche. „Wo ist die Gerechtigkeit?", kreischte sie hysterisch: „wo, frage ich Sie, ist hier die Gerechtigkeit?"

Ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß die Schwester meiner Mutter ebenso geheult hatte, als ihr Sohn, ein ausgezeichneter Schüler, nicht am Institut angenommen worden war, weil sie ihn durch die letzte Prüfung rauschen hatten lassen. Ein anderer Junge mit dem russischen Familiennamen seines Vaters und einer jüdischen Mutter, schaffte die Prüfung. Wo sollte man da die Gerechtigkeit suchen?

In den letzten Jahren hat sich plötzlich alles geändert. Es stellte sich heraus, daß es gut war (Oh Wunder aller Wunder!), Jude zu sein. Man hatte die Wahl. Ein reiches europäisches Land nahm uns als jüdische Emigranten auf. Von allen anderen stand nichts im Gesetz. Die anderen mußten in den schwierigen Verhältnissen des russischen Kapitalismus zurückbleiben. Witze der folgenden Art entstanden: „Eine jüdische Ehefrau ist kein Luxus, sondern ein Transportmittel." Ich habe selbst gehört, wie zwei Frauen in der Straßenbahn über die Heirat ihrer Töchter diskutierten: „Einen guten Juden müßte man finden, um rauszukommen ­ ja, das wär's!"

Alle, die irgendwann einmal eine jüdische Großmutter hatten und alles darangesetzt hatten, sie zu verheimlichen, kramten jetzt vom Boden der Truhe die ersehnten Papiere hervor und reichten ihre Anträge bei der Meldestelle ein. Andere versuchten, sich Geburtsurkunden zu kaufen. Eine Zeit lang war das einfach. Besonders in der Ukraine und in Georgien. „Was, ich soll mir keine jüdische Mutter kaufen können?", meinte treuherzig ein Georgier, der mit mir in der Schlange vor dem deutschen Konsulat stand: „Das kostet einen Tausender."

Dann, als der Emigrantenstrom immer weiter anschwoll, begriffen die kompetenten „Organe" etwas und hörten auf, die frischgedruckten Geburtsurkunden zu akzeptieren. Außerdem stiegen die Preise.

Ich wiederhole, es waren sehr unterschiedliche Leute, die emigrierten, und unsere Nachbarn glichen sich in keiner Weise. Obwohl uns in diesem Moment eines einte ­ die Wohnungssuche. Versetzen Sie sich in diese Zeit. Unsicherheit und panische Hektik lösten zaghafte Hoffnungen ab. An ihre Stelle trat Verzweiflung. Und dann schimmerte wieder ein schwaches Licht am Ende des Tunnels. Die Liste der Wohnungsbaugesellschaften, die Sozialhilfeempfänger akzeptierten, ging wie ein heiliges Buch von Hand zu Hand. Zwei Familien, die in freundschaftlicher Eintracht und gegenseitigem Einverständnis Tür an Tür wohnten, wurden von heute auf morgen Todfeinde, nur weil die eine Familie einen Monat früher eine Wohnung gefunden hatte als die andere. Die Telefonnummern der Makler, die, sagen wir mal, eine solide Bezahlung für die Lösung der Wohnungsfrage nahmen, wurden nur an besonders vertrauensvolle und nahestehende Menschen weitergegeben.

Eine sehr gute Bekannte von uns zog in eine Wohnung. Die Wohnung hatte einer von unseren Maklern gefunden. Ich bat um seine Telefonnummer. „Na hör mal", wunderte sich die Dame mit einem süßlichen Lächeln, „von wegen Makler! Ich bin spazieren gegangen, habe dunkle Fenster gesehen, bin in die ,Gesellschaft' rein, und die haben mir die Wohnung gegeben."

Anna Sochrina

Aus dem Russischen von Anna Wigger

Fotos: Steffen Schuhmann

 
 
 
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