Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Musik für die Massen: Typisch Deutsch

Das passiert selten: Da erscheinen innerhalb von wenigen Wochen mehrere deutschsprachige Rock- bzw. Popalben, und eigentlich will man gar nichts anderes mehr hören.

Schon seit längerer Zeit macht das kleine Hamburger Label Tapete Records mit ungewöhnlichen deutschsprachigen Veröffentlichungen von sich hören. Ob mit Hidalgo, Erdmöbel oder einem Sampler mit dem Titel Müssen alle Mit ­ die Hamburger loten das Fahrwasser für Deutschgesungenes neu aus. Was sie aber mit Besser an Land gezogen haben, rockt alles andere an die Wand. Kaputt und Glücklich bewegt sich zwischen Luftgitarren-Rock à la Zeltinger und groovenden Arrangements, wie man sie eher von HipHoppern wie Jan Delay erwarten würde. Wenn es nicht so abgedroschen wäre: Besser sprühen vor Ideen und protzen vor Kraft ­ und patzen dann noch nicht einmal bei den Texten. Neidlos: Lüneburg City Rocks!

Kleinstädte also und ihr musikalisches Potential: Astra Kid kommen aus Datteln, was mehr nach Abhängen denn nach einer Stadt im Ruhrgebiet klingt. Ohrwurmqualitäten auch hier und eine ähnliche Mischung aus groben Gitarren und raffinierten Strukturen ­ Müde, Ratlos, Ungekämmt (V2) ist in den besten Momenten schlicht grandios. Wären da nicht manchmal die etwas unbeholfenen Stabreime, ginge das Album glatt durch. Aber für die erste Veröffentlichung ist das schon sehr in Ordnung.

Zum Schluß doch noch mal ein Blick in die große Stadt. Wir sind Helden haben es mit einem Song und einem clever-ironischen Video geschafft, in den Charts zu landen, bevor überhaupt das Album fertig war. Die Reklamation (Labels) heißt nun nach dem Hit auch das Album. Ja, und so richtig neu ist es dann nicht ­ der Vergleich ist gemein: Aber würden Nena und Mia zusammen ein Album aufnehmen, so würde es wohl klingen. Andersherum ist es aber auch toll, denn meistens macht diese unbeschwerte Mischung ziemlich viel Spaß. Das liegt vor allem an Sängerin Judith Holofernes. Mit vollem Risiko steuert sie in ihren Texten auf die gefährlichen Klischeeklippen zu ­ und ist dabei so unverschämt direkt, daß sich diese zwischen Ironie und der Süße ihrer Stimme einfach auflösen.

Herr Nilsson wohnt am Prenzlauer Berg und swingt und jazzt rund um Kontrabaß und die chansonartigen Arrangements von Sänger Jan Böttcher. Kleine Alltagsgeschichten und ein bißchen Gesellschaftskritik, angesiedelt zwischen Pianoläufen und Bläsern, macht Einfach sein (Hobby De Luxe) zu dem wohl ungewöhnlichsten der hier vorgestellten Alben. Barmusik mit deutschen Texten, die ­ ja, wenn hier schon mit Vergleichen um sich geschmissen wurde ­ an Blumfeld und Element of Crime erinnern. Dementsprechend kann es schon mal vorkommen, daß sich die wortverliebten Intellektualisierungen in sich selbst verdrehen. Da wünscht man sich öfter mal einen Sample wie in Das Ende der 70er Jahre: Eine Terroristenmeldung aus dem Fernsehen unterbricht die Rotation der Textkaskade und setzt einen wohligen Kontrapunkt.

Marcus Peter

 
 
 
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