Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Ihr hörtet die Ersatzstadt

Vorbereitung der Vertreterinnen des freien Sendens auf die Re-Piratisierung

Die fünf Frontstädte des Ostens heißen allesamt St. Petersburg. St. Petersburg in Brandenburg hat vergangenen Juni einen nicht-kommerziellen Radiosender bekommen. Die sieben Frankfurts im mittleren Westen haben ja schon lange solche Einrichtungen... Gerade testet auch Weimar an. Aus dem Volksbühnen-Ersatzstadt-Topf von Herrchen Castorf bekamen die assoziierten Initiativen/Ex-Piraten ihre Näpfchen mit gestreckten Bundesfördermitteln gefüllt und damit die Frequenz UKW 104,1 für 30 Tage. Hiernach werden sich einige Gruppen erneut Mutter Staat zuwenden, damit ihnen das Lebenselixier nicht ausgeht.

Aber hören wir doch erst mal kurz hinein in die Berge von Material, die, laut Johannes Wilms (Juniradio, Bootlab), aufgeschichtet wurden vor den Toren der Pseudostadt. Aus aller Welt kamen Menschen, um sich gemein zu machen mit Berlins erster freigeistiger Radiobewegung. Das reichte aus, um mühelos 24 Stunden am Tag Programm zu machen.

Dienstag, den 17. Juni, gegen 7 Uhr 40: Sphärisch schwerer Technotrack geht über in ein akustisches Folkset, dies wiederum klingt mit Grillen aus, es mixen sich hinein irre Stimmen. Ein Regler blecherner Beat wird darin aufgezogen; perfekter Technofolk ­ im Stile von März, Sensorama ­ nimmt alle Stile erhaben in sich auf. Mit der Bandtrennung meines Radios muß ich die schmale Frequenz vorsichtig einpendeln, zwischen all dem Horror. Eine Stimme stellt sich als Jo...y Scha...fer vor. Es folgt eine gute Sprechgesangsnummer. Pause. Bekanntes Signal: Dem Deutschlandfunk-Piepston folgt eine Fake-Info-Sequenz, deren Schnipsel wild durcheinander montiert wurden, ohne daß man ihre Authentizität nicht erahnte. Der brave Cut-Up-Oldie schärft die Sinne. Ich mach mal Kaffee. Das ist ein ganz neues Hier-Gefühl beim Frühstück.

Welche Stadt noch gleich? In den Petersburg/B-Katakomben haben die Genies seit der Limitierung der Frequenzen gedarbt. Nun liefern sie en gros in meine Küche. Das Juniradio läuft nur zwei Drittel des Juni. Zuvor stand der Stadtraum unter Ersatz(stadt)radio-, also Castorf-Kontrolle. Es spricht ein Mensch über Digitales. Was nach Juni-Aufstand klang, ist jetzt schon wieder zu Ende. Wie lange kein Schwachsinn, Sprachgenuschel, Experiment mehr? Dieser Test forderte Alles für Immer. War er daher ­ wie nach J. Wilms Empfinden ­ keine ausgelassene Party, kein reiner Spaß? Wie der des Komödianten, der gegen 8 Uhr 30 einen Nonsense-Rechtsstreit mit dem Verlag, der die Schwitters-Ursonate verwaltet, auf seine Weise übermittelt ... am Schluß werden die Singvögel von allen Plagiatsvorwürfen freigesprochen.

Natürlich senden auch Dilettanten. Am 19. Juni war ich Zeuge feuchter Träume von Ruhm und Professionalität, die in den Äther ausgeschüttet wurden, daß es mir grauste. Nicht schön naiv, sondern schlicht unsympathisch. Die darauf folgende Sendung der Gruppe Chicks On Speed ließ selbstgefällige Kulturverwalter aber sicher hellwach in ihren Betten sitzen, wenn sie hören konnten, wie die Hamburger Popdozentinnen den Detroit-Effekt zelebrierten. Das war professioneller Minimalismus! Wird man aus den Fehlern der alten „freien" Radios nicht was lernen, neue Wege finden, so wird es wohl vielen so ergehen wie Hamburg, wo dicht-/plattgemacht wird. Hier wird es zunächst weitere Initiativen, einzeln und/oder zusammen geben, wie z.B. Ausland und Bootlab. Dort wird mit innovativen Techniken experimentiert, die der Piraterie neuen Sinn geben könnten, oder einfach Geld rausgeschmissen, weil sie ahnen, daß die Mogule schon im Juli mit Abendessen bei Kerzenschein locken könnten. Denn eines ist deutlich zu spüren: Die Gewohnheiten sind aufgebrochen. Und wer billig einkaufen will ... wie Chicks On Spees es ausrufen: „Little Labels like us sponsore the big ones!"

Jörg Gruneberg

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