Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Der Irre

Texte aus dem Knast (III)

Der folgende Text entstand in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel. Seit einem Jahr trifft sich dort alle zwei Wochen eine Literaturgruppe und Schreibwerkstatt, in der die Gefangenen eigene Texte lesen und diskutieren. scheinschlag veröffentlicht in Kooperation mit der Literaturgruppe in loser Folge Ergebnisse dieser Arbeit.

Ich erinnere mich noch, wie schön und angenehm es war, als ich die Fäden der „normalen" Realität durchtrennte. Der Tag, an dem ich mich in meine Welt zurückzog.

Jetzt bin ich hier, umgeben von Gleichgesinnten, eingesperrt, weil man sagt, ich sei verrückt. Doch vielleicht haben sie mich hier eingesperrt, weil sie Angst haben, daß nicht ich, sondern sie verrückt sind. Was heißt es denn schon, normal zu sein? Wo liegt die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn? Ich lebe in einer wirklichen, realen Welt. Sie ist genauso echt und real wie ihre.

Wenn ich Besuch bekomme und sie mit mir reden, dann tun sie so, als sei ich ein kleines Kind. Und doch kriege ich alles mit, ich verstehe alles, nur will ich nicht reagieren. Ich bin in meiner Realität und fühle mich wohl hier und lebe hier.

Losgelöst von der Welt, wandle ich vom Tag in die Nacht und von der Nacht in den Tag. Immer dasselbe.

Es gibt nur einen Besucher, der mich versteht und mich nicht wie ein Kind oder einen Irren behandelt. Er behandelt mich wie einen Menschen. Er ist mein wahrer Freund, er steht zu mir in meiner unfreiwilligen Gefangenschaft. Nur ihm gewähre ich Einblick in meine Welt. Denn ich weiß, auch er will gern die Fäden durchtrennen.

Aber er ist wie sie, er hat Angst, Angst, man könnte ihn für verrückt erklären. So lebt er weiter, als Marionette. Ich bin ihm aber nicht böse deswegen, ich verstehe ihn, genauso wie er mich versteht.

Es wird Zeit. Ich sehe, wie er geht, an allem zweifelnd.

Marcel Petscheck

> Gefangener der JVA Tegel

Buch-Nr.: 720/02/9

Name: Marcel Petscheck

Beruf: Kellner

Geb.: 18.6.1979 in Berlin

Haftstrafe: 20 Monate

Delikt: eigenmächtige Abwesenheit (Fahnenflucht)

Verbüßung: bis 18.1.2004

 
 
 
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