Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Vier Tage Widerstand

Die Schaubühne rekonstruiert die Ereignisse von Genua

„Etwas stimmt nicht mit der Welt" eröffnet uns Regisseur Wulf Twiehaus in der deutschen Fassung von Fausto Paravidinos Genua 01. Ohne eine Anleihe an Hollywoods Matrix-Theorien scheint heute keine Kritik an den herrschenden Verhältnissen mehr auszukommen. Doch in Twiehaus' Inszenierung in der Berliner Schaubühne ging es um deutlich Sichtbareres: die kritische Rekonstruktion der Ereignisse während des G8-Gipfels in Genua im Sommer 2001. Zwei Jahre liegen die Ereignisse inzwischen zurück, und die Gerichte haben so mancher schrägen Wahrheitskonstruktion inzwischen ihren Segen gegeben.

Engagiert und politisch zeigt das Schauspielerquartett Jule Böwe, Stephanie Eidt, Christin König und Mark Waschke die Ungeheuerlichkeit der blutigen Ereignisse in der italienischen Hafenstadt auf. Mit viel Multimedia rekonstruieren sie die vier Tage des Widerstands und Protests gegen das Treffen der „acht mächtigsten Männer der Welt".

Dem überwiegend jungen und selbst globalisierungskritischen Publikum wurden zunächst noch einmal die Hauptakteure auf beiden Seiten vorgestellt. Die „Offiziellen" auf der einen Seite und ein bunt gemischter „no global"-Protestkarneval auf der anderen Seite des fünf Meter hohen Zaunes. Von den „Rete lilliput" über attac bis zu den „tute bianche" bekommen wir eine kleine Einführung in die Bewegung, um dann schließlich beim sogenannten „Black Block" in einer spezifisch italienischen Interpretation stecken zu bleiben: Der Black Block bestand ­ so die These ­ vor allem aus Faschisten und Hooligans und von der Polizei eingeschleusten Provokateuren, deren Ziel es war, mittels gezielter militanter Übergriffe die Gewaltanwendung der Polizei zu legitimieren. Auch wenn für Twiehaus klar bleibt, daß eingeschlagene Fensterscheiben keine eingeschlagenen Köpfe legitimieren, so zieht er doch eine deutliche Trennlinie zwischen dem militanten, zerstörerischen Protest als politischer Ausdrucksform und der symbolischen Militanz ­ dem gepolsterten und etwas pummeligen Massenprotest der „Tute bianche". Und so erscheint es als eine unglückliche Verkettung von Ereignissen, daß Carlo Giuliani auf der Piazza Alimonda einen Feuerlöscher über seinen Kopf hob.

Detektivischer wird Paravidino bei der Rekonstruktion der anschließenden Schüsse auf Giuliani. Detailliert führt er alle Ungereimtheiten zusammen, um dem Zuschauer schließlich selbst das Urteil zu überlassen, daß es sich bei den Schüssen auf Carlo eher um einen geplanten Mord handelte, der zudem vielleicht gar nicht von dem Polizisten Marco Placanica begangen wurde, als um den tragischen Unfall, der seit Mai richterliche Wahrheit ist: „Die Lügen der Staatsmacht passen uns nicht", denn wer glaube schon, das Wolfgang Grams (RAF) vor genau zehn Jahren in Bad Kleinen die Kugeln seiner eigenen Pistole gefressen habe?

Doch die Aufklärung hat ihr Ende noch nicht gefunden: Die Rache der italienischen Staatsorgane beschert nach einem weiteren Tag zügelloser Repression noch eine neuen Höhepunkt der Gewalt. Nüchtern erzählen die Schauspieler die Ereignisse des polizeilichen Überfalls auf das Medienzentrum in der Schule „A. Diaz" am Abend des 23. Juli. Sie klagen die Desinformation der Presse an und führen uns auf dem Overhead-Projektor die angebliche Bewaffnung der Demonstranten vor ­ meine silberfarbene Thermoskanne steht auf Platz eins der Indizien. Die staatlich inszenierte Racheaktion wird deutlich, und bis zum letzten Moment werden den Zuschauern mit einem Videoausschnitt der Polizeiübergriffe schwer verdauliche Zeitdokumente gezeigt.

Genua 01 gelingt es, den Zuschauer zwei Jahre zurückzuversetzen und ihm in fast eineinhalb Stunden ein gutes Stück Aufklärung über das Verhältnis von Macht und Protest zu vermitteln. Nach der Sommerpause wird das Stück vom 19. bis 21. September an der Schaubühne am Lehniner Platz wieder zu sehen sein.

Jens Herrmann

> Der Autor war selbst in Genua und gehört zu den Gefangenen aus der Schule Diaz.

Weitere Infos zum Tod von Carlo Giuliani gibt es unter:

www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/12919/1.html

Und zum Stand der Verfahren:
www.nadir.org/nadir/aktuell/2003/05/07/15823.html

 
 
 
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