Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Das wahre Chaos der Stadt Berlin

Die Gruppe „Stadtblind" zeigt Unorte in bunten Farben

Jemand hat achtlos seinen gelben Gartenschlauch auf den Halter an der Hauswand gerollt. Eigentlich ist das kein Bild wert. Geschieht dies doch unzählige Male jeden Abend in den Vorgärten von ganz Deutschland. Doch die Künstler der Gruppe „Stadtblind" fanden dieses Motiv würdig genug, um es in ihren Katalog der „Farben der Stadt" aufzunehmen.

Denn Celia Di Pauli, Jesse Shapins und Philipp Schwarz sind auf der Suche nach einem Gegenbild zu all den Phantasien und Beschwörungen, die alle möglichen Menschen über die Stadt Berlin herbeireden. Die drei Architekten und Stadtplaner mit internationalen Erfahrungen in Österreich und Amerika meinen eine Lücke in der Wahrnehmung Berlins entdeckt zu haben und wollen sie schließen.

Ihnen ist das allgemeine Berlin-Bild zu sehr auf Mitte und die Trendbezirke beschränkt. Viel zu oft wird über das „steinerne Berlin" diskutiert, ohne daß man sich die Stadt in ihrer ganzen Bandbreite ansehen würde. So begannen sie, nachdem ihnen das Quartiersmanagement in der Prinzenallee im Wedding einen Raum zur Verfügung gestellt hatte, erst einmal diesen Bezirk zu untersuchen und die kleinen, versteckten Besonderheiten, Eigenarten und Schönheiten des Kiezes zu dokumentieren. Um aber die Betrachter an die oft sehr nebensächlichen Motive heranzuführen, brachten sie unter jedem der kleinen Bilder zwei Farbtafeln an, wie man sie von Malermeistern kennt. Es handelt sich um je zwei Farben aus dem Foto, dazu ein Stadtplanausschnitt, um das Motiv verorten zu können, gegebenenfalls ein Zitat über Berlin und die Stadtplanung. Inzwischen haben die drei Stadtforscher auch ein kleines Buch in Form eines Farbkatalogs herausgegeben, mittels dessen man eine ungewöhnliche Tour durch den Wedding machen kann.

Nun haben sich Shapins, Schwarz und Di Pauli nicht mehr auf den Wedding beschränken wollen und ihre Stadterkundungen auf die ganze Stadt ausgedehnt. Nur Mitte kann sie nicht wirklich locken. Dagegen machen sie Ausflüge nach Neukölln, Hermsdorf und zum Flughafen Tegel. Ihre Entdeckung ist, daß Berlin viel bunter ist, als man es in den Innenstadtbezirken wahrnimmt. Die in einem „alpenländischen Stil" errichtete Holzhütte gehört ebenso dazu wie der Verkehrsstau und die Kirchenkreuze, die an eine Wand gemalt sind. Berlin wirkt auf diesen Fotografien oft viel interessanter ­ und vor allem internationaler ­ als es der Potsdamer Platz und die Simon-Dach-Straße vermitteln.

Vielleicht liegt das einfach daran, daß die drei sich auf sogenannte „Unorte" konzentriert haben, die überall zu finden sind und auf keinen spezifischen Raum festzulegen sind. Und ihr Ordnungsprinzip nach Überbegriffen wie „Verwaltung", „Bildung" oder einfach nur „Sitzen" läßt das wahre Chaos einer Stadt erkennen, die sich jeder starren Systematik entzieht.

Das Projekt soll nun auch in anderen Städten und mit neuen Mitgliedern erprobt werden, und sicher wird man auch dort auf der Suche nach Farben auf einen achtlos zusammengerollten Gartenschlauch treffen.

Spunk Seipel

> Information: www.stadtblind.org

 
 
 
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