Ausgabe 06 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

„Es ist doch viel wichtiger, sich mit der Basis zu beschäftigen"

Hans G Helms über Computertechnik, neue Musik, das neue Berlin und die Zukunft des Kapitalismus

Hans G Helms, geb. 1932, lebte nach Kriegsende als „black marketeer" und Industriearbeiter in verschiedenen europäischen und nordafrikanischen Ländern und in den USA, später als Literat, Komponist und Privatgelehrter in Köln und New York, seit 2003 in Berlin. 1974 Promotion zum Dr. rer. pol. in Bremen, ab 1976 Studien zur Computer- und Telekommunikationsentwicklung in den USA. Zahlreiche Veröffentlichungen in politischen und wissenschaftlichen, Musik- und Literaturzeitschriften sowie Gewerkschaftsorganen und Tageszeitungen (v.a. junge Welt), zahlreiche Hörfunk- und Fernsehproduktionen für den WDR und andere ARD-Anstalten.

Publikationen (Auswahl): Fa:m' Ahniesgwow (1959), Fetisch Revolution (1969), Die Stadt als Gabentisch. Beobachtungen zwischen Manhattan und Berlin-Marzahn (1992), Musik zwischen Geschäft und Unwahrheit (2001)

Foto: Ina-Maria Rittmeyer

Was hat Sie nach langen Jahren in Köln bewogen, in dieses neue Berlin zu ziehen?

Verschiedene Dinge. Erstens bin ich so eine Art halber Berliner. Ich bin gebürtiger Mecklenburger und als kleines Kind schon sehr oft in Berlin gewesen. Das war während des Dritten Reichs. Ich bin zwar Jude, aber wir haben mit gefälschten Papieren hier überlebt. Das war ein bißchen riskant, aber es hat funktioniert. Berlin war mir sozusagen eine Art zweite Heimatstadt neben meiner Geburtsstadt Teterow in Mecklenburg, dem wichtigsten Ort der Mecklenburgischen Schweiz, wo es einen Berg gibt, der 178 m hoch ist. Außerdem lebt die Mehrzahl meiner engen Freundinnen und Freunde in Berlin.

Und dann habe ich mich 30 Jahre lang sehr intensiv mit den USA als der technisch fortschrittlichsten Ökonomie des Kapitalismus beschäftigt. Das muß ich nicht weiter machen. Mein Interesse ist jetzt, in künstlerischer Form die kommenden Entwicklungen zu reflektieren und gleichzeitig die Entwicklungsgeschichte der Juden in Osteuropa zu erforschen. Das heißt: Ich bin auf Archive angewiesen, die sich entweder in Berlin befinden oder in Wien, Polen oder der Ukraine. Das waren die entscheidenden Gründe, Köln Richtung Berlin zu verlassen.

Sie haben 1992 bei Reclam Leipzig die Anthologie Die Stadt als Gabentisch herausgegeben ­ mit einem einleitenden Essay, in dem Sie ein düsteres Szenario entwerfen, wie Großberlin „zu den Konditionen des Großkapitals und der Hochtechnologien" umgebaut wird. Hat Ihnen die Entwicklung der letzten zehn Jahre Recht gegegben?

Es ist alles noch ein bißchen schlimmer geworden, als ich dachte. Das Großkapital und die Bundesregierung haben ja wirklich eine Art neue Mauer gebaut ­ vom Potsdamer Platz bis zum Regierungsviertel, wo eigentlich für den normalen Menschen, vor allem, wenn er nicht über Geld verfügt, kein Durchkommen ist. Man kann nur mit der U-Bahn drunter herfahren.

Im Grunde haben wir es immer noch mit einer völlig zweigeteilten Stadt zu tun. Die Baumaßnahmen fanden und finden überwiegend im Osten statt, weil sich dort aus westlicher Sicht genügend Gebäude zum Abriß anboten und es genügend Leerflächen gab, die man vollbauen konnte. Es sind hier unheimlich viele absolut nutzlose Gebäude hingebaut worden. Wenn man sich z.B. die Friedrichstraße ansieht, wo ein Büropalast neben dem anderen sich aufreiht ­ alle von namhaften Architekten, trotzdem absolut häßlich ­ die stehen ja überwiegend leer.

Das andere Phänomen ist die Luxussanierung von Altbauten. Das hat in Kreuzberg und Charlottenburg ja auch schon mal stattgefunden. Das trifft jetzt massiv das ganze Ostberlin. Man braucht sich ja nur hier um die Ecke umzusehen, in der Simon-Dach-Straße. Jedes zweite Haus ist inzwischen luxussaniert. Das Viertel hat dadurch eine demographische Veränderung erfahren, die ganz sicher für Berlin nicht wünschenswert ist.

Sie sind zunächst als Literat und Musiker hervorgetreten und haben sich dann immer mehr auf politisch-ökonomische Studien verlegt. Geschah das deshalb, weil Sie dachten, es wäre dringlicher, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen und die künstlerische Produktion zurückzustellen?

Ja, das war tatsächlich so. Anfang der sechziger Jahre hatte ich das Gefühl, es wäre dringend notwendig, daß ich mich politisch aktivierte. Das hing auch damit zusammen, daß ich damals anfing, durch das Studium von Marx und Engels und deren Methodologie zu begreifen, wieso das Großkapital seit der Kaiserzeit, durch die Weimarer Republik und das Dritte Reich hindurch in Westdeutschland immer weiter herrschte. Entscheidend war, daß die Prozesse gegen die Wirtschaftskriegsverbrecher von I.G. Farben usw. in Nürnberg im Nichts endeten. Es gab zwar ein paar Verurteilungen, aber die wurden durch eine Generalamnestie nach ein oder zwei Jahren aufgehoben. Und es ist ja bekannt, daß Herr Krupp aus seiner Gefängniszelle mit großem Sekreteriat seinen Konzern weiterleitete.

Mich hat das außerordentlich berührt, nicht nur, weil ich einige dieser Prozesse in Nürnberg beobachten konnte, sondern weil ich diesen Druck des Kapitals auf die Bevölkerung ganz allgemein spürte und weil ich damals die Befürchtung hegte: Die Faschisierung ist längst noch nicht zu Ende ­ weshalb ich auch Deutschland verlassen und mich in der Welt herumgetrieben habe.

Ich habe von '46 bis '57 Westdeutschland nur ein paar Mal für ein, zwei Tage betreten. Wenn ich nach Deutschland kam, bin ich eigentlich immer nach Ostberlin gefahren, um mir am Berliner Ensemble oder an der Komischen Oper bedeutende Inszenierungen anzusehen. Westdeutschland war für mich ein reiner Horror.

Das hat dann konsequent in die Beschäftigung mit Ökonomie geführt.

Zuerst mit Ideologiegeschichte. Dadurch kam meine Studie über Max Stirner und die Geschichte des kleinbürgerlichen Klassenbewußtseins zustande. Durch diese Arbeit lernte ich Jürgen Kuczynski kennen, der für mich zum wichtigsten Lehrer wurde. Er sagte mir eines Tages am Telefon: „Junge, warum beschäftigst du dich immer mit dem Überbau? Es ist doch viel wichtiger, sich mit der Basis zu beschäftigen." Ich habe den Rat sehr ernst genommen.

Nun war ich selber schon durch Gespräche mit Siegfried Kracauer dazu gekommen, die produktive Realität ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit zu lenken. Das fing bei mir mit Städtebau- und Verkehrsanalysen an, dazu kam dann die Entwicklung der Industrieansiedlungen seit Beginn der industriellen Revolution, die wiederum Auswirkungen auf den Städtebau und die Entwicklung der Transportmittel hatte. Die Produkte sind dann erst in den siebziger Jahren entstanden. Das sind teilweise längere Essays und teilweise Dokumentarfilme für das Fernsehen.

Mit dem Wissenschaftsbetrieb hatte ich aber nicht viel im Sinn, weil ich ein ausgesprochener field researcher bin. Es hat mich immer gelangweilt, Papier zu verarbeiten. Ich fand es immer sehr viel aufschlußreicher, eine Fabrik zu besuchen, die Arbeitsbedingungen zu studieren. Der normale Wissenschaftsbetrieb, der ja im wesentlichen darauf abzielt, Theorien zu entwickeln, hat mich überhaupt nicht interessiert.

In den letzten Jahren haben Sie doch wieder begonnen, künstlerisch zu arbeiten. Warum ist das jetzt wieder möglich?

Die Ideen dazu haben mich die ganze Zeit, über 30 Jahre lang, begleitet. Der Grund, warum ich meine, nicht nur polit-ökonomisch arbeiten zu sollen, liegt wahrscheinlich darin begründet, daß polit-ökonomische Studien bedauerlicherweise nur auf ein sehr eingeschränktes Interesse stoßen und es vielleicht ­ vor allem auf längere Sicht gesehen ­ ebenso wirkungsvoll oder sogar noch wirkungsvoller sein kann, wenn man sich künstlerischer Mittel bedient. Das heißt ja nicht, daß es zu einer Abwendung von diesen Inhalten käme, es ist nur ein Arbeiten mit anderen Mitteln.

Wie gestaltet sich ihre aktuelle Arbeit zur Geschichte des Judentums in Osteuropa? Sind das essayistische Texte, die dabei entstehen?

Das wird sich noch zeigen. Im Moment sitze ich an zwei Hörfunk-Features. Das eine behandelt die Romantrilogie Feuer im Abgrund von Soma Morgenstern, das andere die Geschichte von Auschwitz. Das sind normale kritische Arbeiten, die sehr viel historische Forschung involvieren. Ohne historische Forschungen sind weder diese Romane von Morgenstern verständlich zu machen, noch ist die Geschichte von Auschwitz zu erarbeiten. Künftige Arbeiten auf diesem Gebiet werden wahrscheinlich einen anderen Charakter annehmen. Aber ich kann jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen, welchen.

In den „Musik-Konzepten" sind von Ihnen unter dem Titel Musik zwischen Geschäft und Unwahrheit Essays erschienen, in denen Sie sich sehr kritisch mit dem Musikbetrieb vor allem der sechziger und siebziger Jahre auseinandersetzen ­ eine Zeit, die ja in der Retrospektive gar keine so schlechte Zeit für neue Musik gewesen zu sein scheint. Damals haben sich beispielsweise die großen Sender noch ernsthaft engagiert. Wie sehen Sie die Entwicklung seitdem?

Ich beobachte eine Verminderung der Qualität, und die hängt zum Teil natürlich mit den schwierigeren Existenzbedingungen junger Komponistinnen und Komponisten zusammen. Die Veranstalter haben weniger Geld zur Verfügung. Der Ausweg für viele künstlerisch Aktive ist, sich einer billigen Elektronik zu bedienen. Diese Elektronik hat nach meinem Dafürhalten den Nachteil, daß sie zu einer großen Oberflächlichkeit verführt. Es wird mehr mit Klängen manipuliert, als daß wirklich komponiert würde. Wenn ich mir anschaue, was heute an vielen Stellen in Berlin oder Köln zu hören oder zu sehen ist, vermag ich darin keinen bedeutenden kompositorischen Sinn zu entdecken. Und da ich immer der Überzeugung war, daß Künstler die Verpflichtung haben, gesellschaftlich aufklärend zu wirken, kann ich mir nicht vorstellen, wie man das ohne ernsthaftes Komponieren bewirken kann.

Ein weiteres Ihrer Forschungsgebiete ist die Computertechnik. Wie sind Sie dazu gekommen?

Es war auf einer Messe in Köln, 1975. Dort wurden die ersten textverarbeitenden Computer vorgestellt. Die waren verhältnismäßig primitiv, zeigten aber schon, wie die Büroarbeit in Zukunft der Fabrikarbeit angeglichen werden würde, indem Sekretärinnen gezwungen wurden, mit Textbausteinen zu arbeiten. Ich bin dann für den WDR einige Monate in die USA gereist, um mir an Ort und Stelle anzusehen, wie die Büroarbeit durch Computer verändert wird. Zu dem Zeitpunkt hatte sich gerade in den USA eine gewerkschaftliche Opposition gegen diese Maschinisierung der Büroarbeit gegründet, die Gewerkschaft Working Women. Ich habe mit diesen Frauen gesprochen, aber auch mit Software-Ingenieuren.

Dann hatte ich das Glück, mehrere Jahre hintereinander Gastprofessuren an der University of Illinois zu haben. Unter meinen Studenten waren graduierte Computerwissenschaftler. Die haben mir einen Crashkurs in Computer Science gegeben. Dadurch lernte ich begreifen, daß wir es mit einem Instrument zu tun haben, das die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Zukunft bestimmen wird. Das führte dazu, daß ich mich dann ab '78 in den USA niedergelassen habe, um dort die Entwicklung der Computer sowohl im industriellen, als auch im Dienstleistungsbereich genau zu untersuchen, z.B. in der Automobilindustrie. Aber der wichtigste Bereich war natürlich der militärische, weil in den USA die Computerentwicklung fast komplett vom Pentagon finanziert worden ist.

Manövriert sich der globale Kapitalismus in eine finale Krise oder ist das ein Zustand, der sich noch auf Jahrzehnte weiter fortspinnen kann?

Ich fürchte eher das Letztere und bin nicht einmal sicher, daß es sich nur um Jahrzehnte handelt. Es kann auch noch ein ganzes Jahrhundert andauern. Wenn man sich beispielsweise überlegt, wie der Kapitalismus von einer kapitalistischen Entwicklung Chinas, des ehemaligen Rot-China, oder auch Indiens oder der ehemaligen Sowjetunion, profitiert, wie sich das alles positiv für das Großkapital entwickeln könnte, dann glaube ich nicht, daß wir schon vor dem Ende des Kapitalismus stehen. Ich würde mir das aber wünschen.

Interview: Florian Neuner

 
 
 
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