Ausgabe 05 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Notizen aus dem Hinterhof der EU

Berlin-Budapest-Timiçoara

Eine 24stündige Zugfahrt: Der Osten beginnt am Budapester Keleti-Bahnhof. Ihn erreicht man, von Westen kommend, in modernen Eurocity- oder Euronight-Zügen. In Richtung Südosten, nach Rumänien, schicken die ungarischen Bahnen ihren letzten Schrott. Der Zug nach Timiçoara ist überfüllt, acht Plätze gibt es in einem Abteil, Ostblock-Standard. Die Reservierung hätte ich mir sparen können. Das Abteil, in dem ich meinen Platz habe, ist von männlicher Jugend belagert, anscheinend Grenzsoldaten. Mein Begleiter möchte sich nicht hineinsetzen, ihm scheinen die Jungs suspekt. Also bleiben wir im Gang und hoffen auf einen Bahnhof, der den Zug etwas leeren möge. Der Bahnhof kommt erst nach fast zwei Stunden und bringt auch keine Erleichterung. Der Zug wird immer noch voller. Eine sechsstündige Fahrt ohne Speisewagen. Die Jungs werden uns noch einige Stunden erhalten bleiben. Endlich entleert sich der Zug in die ungarische Provinz, über die Grenze nach Rumänien fährt kaum jemand. Und schneller als erwartet sind wir in Timiçoara, denn wir haben nicht daran gedacht, daß es in Rumänien keine Sommerzeit gibt, brauchen einen Moment, um uns zu vergewissern, denn auf den rumänischen Bahnhöfen vermißt man Schilder, die einen über den Aufenthaltsort informieren.

RumaenienreiseAbb.: Archiv Florian Neuner

Vertraute mitteleuropäische Stadt: „Klein-Wien" heißt es in den Werbebroschüren, und tatsächlich erinnern viele Straßenzüge in der Innenstadt von Timiçoara/Temesvar/Temeschburg an Wien oder Graz. Wenn die orthodoxe Kathedrale nicht wäre, das Theater im rumänischen Nationalstil der letzten Jahrhundertwende, das „Denkmal der Römischen Wölfin" als Illustration des nationalen Gründungsmythos. „In Sachen Instandhaltung dieser wertvollen Bauten müßte mehr getan werden", mahnt der Dumont-Kunstführer.

Timiçoara ganz im Westen Rumäniens fühlt sich dem Rest des Landes überlegen, zudem als „Märtyrerstadt", seitdem die „Revolution" 1989 von einer Mahnwache in der Stadt ihren Ausgang nahm. Es sei geschossen worden, aber ein regelrechtes Massaker, wie es manche Berichte glauben machen wollten, sei das auch nicht gewesen, wird mir versichert.

In Ungarn werde man immer bedauert, wenn man erwähne, daß man nach Rumänien fahre, gar dort lebe und arbeite. Der ungarische Nationalismus sei noch immer unglaublich, noch immer hänge man Groß-Ungarn nach.

Die deutsche Minderheit ist beinahe vollständig verschwunden aus Rumänien, zu Ceauçescu-Zeiten von der BRD losgekauft, hielt der Exodus nach 1989 an. Der Rest an deutscher Kultur und Tradition wird jetzt subventioniert bzw. simuliert. Für die Banater Schwaben gibt es vielfältige, von Deutschland geförderte Einrichtungen, am wichtigsten wohl das Altersheim. Vor kurzem ist in Timiçoara ein deutsches Kulturzentrum eingerichtet worden. In keinem anderen Land der Welt, so erzählt ein Lektor aus Sibiu/Hermannstadt, sei das Interesse an Deutschland so groß wie in Rumänien. Jetzt lernten eben rumänische Kinder die Volkstänze der Siebenbürger Sachsen.

Timiçoara-Novi Sad

Das Banat ist ein menschenleerer Landstrich, pannonische Tiefebene. Groß sind die Entfernungen zwischen den Dörfern, die Straßen mit Schlaglöchern übersät. Dann der Grenzübergang Jimbolia. Obwohl hier nichts los ist, geht alles nur sehr langsam seinen Gang. Balkan-Clichés: Der Zöllner entdeckt im Kofferraum eine Bierdose (Timiçoreana) und behält sie ein. Den Rest unseres Gepäcks will er dann gar nicht mehr sehen. Seit dem 1. Mai knöpfen die Serben EU-Bürgern eine Visagebühr in Höhe von 56 Euro ab und halten somit die letzten Reisenden, die nicht nach Serbien müssen, von einem Besuch des Landes ab. Das Visum wird mit einer alten Schreibmaschine getippt und soll dann doch nur 35 Euro kosten. Aber nein, der Beamte hat nur irrtümlich ein Transitvisum berechnet, kommt noch einmal aus seiner Amtsstube herausgerannt, nein: so schnell dann doch nicht.

Ob die Straßen hier noch schlechter sind als in Rumänien? Dort werden bereits Straßen mit EU-Geldern modernisiert. Man ist davon überzeugt, in einigen Jahren EU-Mitglied zu sein. In Serbien ist davon keine Rede. Seltsames Durcheinander lateinischer und kyrillischer Schriftzeichen jenseits der Grenze.

Die neuen Grenzen: Man sieht so gut wie keine Autos aus dem nahen Kroatien hier. Auf dem Weg nach Norden, nach Deutschland, fahren die Serben über Budapest, Wien. Auf den Straßen Serbiens fahren die Autos, die in Westeuropa ausrangiert worden sind.

Auch hier in Novi Sad „Klein-Wien", über der Donau die von Maria Theresia erbaute Festung Petrovaradin. Die Stadt ist viel belebter als das verschlafene Timiçoara, viel Betrieb auch noch spätabends in der Innenstadt. Es heißt, viele Flüchtlinge seien in die Stadt gekommen. Kriegsfolgen: Die augenscheinlichsten sind die beiden zerstörten Donaubrücken. Eine ist durch eine provisorische Pontonbrücke ersetzt worden, die andere wird jetzt wiederaufgebaut ­ mit Hilfe der EU und also Deutschlands, nachdem sie von der NATO und also mit Hilfe Deutschlands zerstört worden war. Das sollte man nicht vergessen, sich nicht wundern, wenn man hier zuweilen unfreundlich behandelt wird. Ich wundere mich auch nicht über anti-amerikanische Postkarten: Ein bärtiger Serbe pißt auf eine amerikanische Flagge („U can't beat the feeling!"), oder: „Fuck the Coca/Fuck the Pizza/All We Need is Shljivovitza." Ich wundere mich eher über die auch nicht weniger als anderswo beliebte McDonald's-Filiale in der Novi Sader Innenstadt.

Die Altstadt ist relativ klein, die meisten Menschen wohnen in sozialistischen Neubauvierteln ­ oder haben gar keinen festen Wohnsitz. Auf die „Zigeuner" blickt hier jeder herab, das ist in allen gesellschaftlichen Kreisen salonfähig. In den Wohnvierteln sieht man sie in den Mülltonnen wühlen. Ich denke an den ungarischen Schriftsteller László Végel aus Novi Sad, der gerne die guten, alten Zeiten beschwört, als hier friedlich ein buntes Völkergemisch zusammenlebte. Immerhin gibt es in Novi Sad einen beliebten, mehrsprachigen Radiosender.

Seit dem Ende des Milosevic-Regimes hätten bereits so viele junge Leute das Land verlassen, wie in den zehn Jahren davor. Von Aufbruchsstimmung keine Spur, und hinter Djindjic standen auch erst alle, als es bereits zu spät, als er tot war. In die Deutschkurse an der Universität kommen immer wieder Studenten, die sich nach den Möglichkeiten, illegal in Deutschland zu arbeiten, erkundigen. Oder man geht gleich in die USA.

Wenn man das Pech hat, daß die Telefonnummer mit einer 3 beginnt und die Gespräche also noch über die alte Zentrale geleitet werden, ist das Telefonieren mühsam: Oft hat man mehrere Personen in der Leitung, oft ist der Anschluß einfach tot; Gespräche ins Ausland sind meistens nicht möglich.

„Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren", biedert sich ein Gast im BALKAN GRILL an, als er uns Deutsch sprechen hört. Man müsse sehr aufpassen bei dieser Art von Kumpanei, meint mein Begleiter, das sei meistens sehr berechnend. Der Gast ist Professor an der ökonomischen Fakultät. Das Essen schmeckt auch hier nicht: verbranntes Fleisch, alles vom Grill und dazu die obligatorischen Pommes frites.

Novi Sad-Budapest-Wien

Es fahren nur wenige Züge auf diesem Bahnhof. Für die 80 km nach Belgrad benötigen sie zweieinhalb Stunden. Es gibt einen Tages- und einen Nachtzug über Subotica und Budapest nach Wien. Bis zur ungarischen Grenze ist der Zug, der aus Belgrad bereits verspätet kommt, fast leer, in den ungarischen Provinzstädten wird er gestürmt. Ich flüchte mich in den Speisewagen und hoffe, dort meine letzten Dinar loszuwerden. Aber das ist nicht möglich. Der Kellner besteht, noch vor Budapest, lange vor der österreichischen Grenze auf der Bezahlung in Euro. In der Wechselstube am Wiener Westbahnhof erklärt man mir dann später, daß man in ganz Wien keine Dinar wechseln könne.

Florian Neuner

 
 
 
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