Ausgabe 05 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Wir haben nicht Bäume ­ also auch keinen Staub

Ein Stück über die Normalität des Unnormalen

Beim ersten Bild glaubt man sich ins Yuppie-Milieu versetzt: allererste Golfstunde mit Privatlehrer Guido Klemper. Doch statt mit dem Führen des Schlägers oder dem Erläutern der Spielregeln beginnt der Trainer gleich mit der Verhaltensetikette für gefeierte Golfprofis. Gereizt reagiert er hingegen, wenn der neue Schüler eines der Eisen auch nur probeweise in die Hand nimmt. Arno kehrt unterdessen mit prallgefüllten Plastiktüten aus dem Supermarkt zurück: 16 Pakete Cornflakes packt er auf den Tisch, zwei Ravioli-Dosen, aber nur eine kleine Tüte Milch. Der Filialleiter hatte angeregt, 19 Pakete Cornflakes mitzunehmen, aber da er nicht genug finden konnte, hat er stattdessen noch andere Artikel eingepackt. Dazu stößt Julian mit einem ganzen Packen „schwerer Bücher", freut sich, daß er einen Bibliotheksausweis und das ganze Lesefutter bekommen hat, obwohl er kaum lesen oder normale Sätze bilden kann. Lukas hat einen mächtigen Schlüsselbund um den Hals und stopft am liebsten Pfannkuchen in sich hinein, wenn er nicht gerade rührend unbeholfene Flirtversuche mit Lydia unternimmt. Dummerweise begehrt die als Beweis seiner Zuneigung ausgerechnet seine geliebten Schlüssel, die er doch braucht, „um überall reinzukommen".

Damit ist die Schicksalsgemeinschaft komplett. Denn das neue Stück vom Jugendtheater strahl Die Jungs von nebenan oder Irren ist menschlich – mal nicht von Hausautor Günter Jankowiak, sondern von Tom Griffin geschrieben – stellt mit ausgeprägter Situationskomik und köstlichem Sprachwitz die Verhältnisse in einer betreuten WG psychisch lädierter Jugendlicher dar.

Jeanette als Besucherin der Wohngemeinschaft wird wie eine Freundin begrüßt, aber ihr korrigierendes Eingreifen macht klar: Die Jungs ticken alle nicht ganz richtig, brauchen sie als Betreuerin, um nicht an den Tücken des Alltags zu stranden. So jagen sie im Dunkeln mit Taschenlampen, Besen und einer Mischung aus Panik und wilder Entschlossenheit den Albtraum jedes Mieters, eine „Ratte", die sie im Team auch erlegen ­ bis die Nachbarin zaghaft anfragt, ob die Jungs vielleicht ihren Goldhamster gesehen hätten. Auch der Putztag wird zum turbulenten Abenteuer. Der stets mit Fliege geschmückte Arno hat nur noch einen geborstenen Teppichklopfer in Händen; Julian saugt Staub, aber da ihm der Lärm des Staubsaugers unerträglich ist, wickelt er das Stromkabel lieber um den Körper wie eine Nabelschnur, die in seiner Hose endet. Auf seine naiv-erstaunte Frage, wo der Staub denn eigentlich herkomme, erhält er prompt die ebenso plausible wie falsche Auskunft: „von den Bäumen". Damit hat sich das Saugproblem für ihn in Nichts aufgelöst. Erleichtert brüllt er seinen logischen Schluß ins Treppenhaus: „Wir haben nicht Bäume" ­ und daher wohl auch keinen Staub.

Natürlich läßt man die Jungs auf ihrer Spinnerwiese nicht einfach so in Ruhe. Der von Geburt an entwicklungsretardierte Julian muß vor eine Prüfungskommission, die über seinen weiteren Status entscheiden soll. Und Guido freut sich nach sieben langen Jahren auf den Besuch seines Vaters, wie er sich gleichzeitig vor ihm fürchtet.

Franz-Josef Paulus

> „Die Jungs von nebenan" vom 11. bis 13. sowie am 25. und 26. Juni um 11 Uhr und am 24. Juni um 11 und 19.30 Uhr im Haus der Jugend „Die weiße Rose", Martin-Luther-Straße 77, Schöneberg; Tickets, Informationen und weitere Termine: fon 69599222 oder www.theater-strahl.de

 
 
 
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